Verwirrung ist dein Freund

Verwirrung ist dein Freund

Warum eine einfachere Welt keine bessere wäre, wie Ockhams Rasiermesser Realität beschneidet, warum wir vor den falschen Dingen Angst haben, und was unsere Gesellschaft mit Hamlet gemein hat.

Ich hab da so ’ne Theorie: Eine einfache Welt ist auch eine ungerechte Welt. Unsere derzeitige Wahrnehmung ist jedoch genau umgekehrt: Die Welt scheint fortwährend komplexer und gleichzeitig unfairer zu werden – statt überschaubarer Nationalkriege gibt es internationalen Terrorismus ohne Kapitulation, eine immer unverständlichere Finanzwirtschaft vernichtet reale Werte, durch die Globalisierung wächst die Kluft zwischen arm und reich, etc. Und weil alles so komplex ist, haben wir das Gefühl, auf nichts mehr eine Antwort haben zu können, weil es zu viele Hintergründe und zu viele Meinungen gibt.

Ich beobachte selbst seit einiger Zeit, dass in unserer Gesellschaft eine Sehnsucht nach mehr Einfachheit und Klarheit herrscht, wie ich zum Beispiel in einem meiner vorigen Blogposts über den Fantasy-Boom betrachtet habe. Manifestiert hat sich diese Unsicherheit übrigens auch im Text eines bekannten Schlagers, der 2009 hoch und runter gedudelt wurde:

„Diese Welt ist schnell
Und hat verlernt beständig zu sein.

[…]

Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit
In einer Welt in der nichts sicher scheint.
Gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas das bleibt.“ („Irgendwas bleibt“, Silbermond)

Doch wir dürfen die Unübersichtlichkeit und Komplexität der Globalisierung keinesfalls fürchten und bekämpfen, sondern müssen uns voll auf ihre Seite schlagen. Diese Einsicht kam mir zuerst während meines Philosophiestudiums, von dem ich mir unter anderem Lösungen für die Probleme dieser Welt erhoffte. Doch die Antworten, die ich bei den Meisterdenkern der Antike und der Aufklärung fand, befriedigten mich nicht: Sie waren zu alt und zu einfach. Damit ging es mir genauso, wie dem postmodernen Philosophen Jean-François Lyotard, der die „großen Erzählungen“ der Moderne für gescheitert erklärte: Das Reich Gottes, Aufklärung, Rationalismus, Kommunismus, Freie Marktwirtschaft, … Sie sind zu simpel für diese immer komplexer werdende Welt, und müssen zwangsläufig scheitern. Die Sehnsucht nach solchen Erzählungen und Lösungen, die unser Weltbild ordnen und uns die Angst vor der Zukunft nehmen, ist immer noch da – auch bei mir. Aber ich kann ihnen nicht mehr glauben.

Ockhams Rasiermesser ist immer noch scharf

Erst als ich auf die französischen Poststrukturalisten – insbesondere Gilles Deleuze, Félix Guattari und Michel Foucault – stieß, wuchsen meine Hoffnungen wieder: Konzepte wie Rhizom oder die Archäologie des Wissens entsprachen der chaotischen Realität viel besser, als simple Systeme und Maximen à la  kategorischer Imperativ, welche immer der Versuch waren, eine vielfältige Realität einem einzigen Prinzip zu unterstellen. Eine Wurzel für dieses Verhalten liegt im abendländischen Rationalismus, dessen schönstes Symbol vielleicht Ockhams Rasiermesser ist – so lautet der Name eines wissenschaftlichen Effektivitätsprinzips, das dafür steht, Überflüssiges und Redundantes aus einer Theorie „wegzuschneiden“:

„1. Von mehreren Theorien, die die gleichen Sachverhalte erklären, ist die einfachste allen anderen vorzuziehen.

2. Eine Theorie ist im Aufbau der inneren Zusammenhänge möglichst einfach zu gestalten.“ (Wikipedia)

Das war eine so offenkundige Verkürzung realer Komplexität, dass schon Leibniz und Kant dagegen opponierten und auf die Vielfalt der Realität hinwiesen. Geholfen hat es nicht viel, denn Ockhams Rasiermesser ist bis heute die erste Wahl, wenn es um wissenschaftliches Arbeiten oder politische Entscheidungen geht.

Das Problem ist nicht Komplexität

Aber warum ist unsere Welt denn gegenwärtig so verwirrend und uneindeutig? Das liegt daran, dass immer mehr Menschen mitreden, die es früher nicht taten oder konnten. Durch das Internet und die globalisierte Kommunikation tun sie das nun, informieren sich, erlangen ein anderes Bewusstsein über weltweite Zusammenhänge und organisieren sich. Sie sind damit Symptom für eine Gesellschaft, in der die Hierarchien langsam flacher werden. Das ist gut, denn schließlich ist es nicht die Komplexität der Realität, die das Problem ist, sondern die sehr eindeutigen Dinge, die darin schief laufen und meist auf das Konto sehr eindeutiger Machtträger geht.

Beispiel Finanzkrise: In einem kürzlichen Gespräch mit der Besucherin eines Vortrags beim Fachforum „Zukunft der Arbeit“ (vom 26. bis 28. Oktober) im Projekthaus Babelsberg äußerte ich, dass ich mir manchmal wünschte, mehr von Wirtschaft zu verstehen um bei dieser ganzen vertrackten Finanzkrise überhaupt mitreden zu können und die Zusammenhänge zu verstehen. Sie meinte daraufhin, das sei gar nicht nötig; für sie reiche die Erkenntnis aus, dass es verkehrt ist, wenn aus Geld wieder Geld entsteht, anstatt aus Arbeit. Da wurde mir klar, dass die Komplexität der Finanzkrise letztlich nur verschleiert, was im Kern der Sache falsch läuft, und dass es sich die Akteure der Finanzwirtschaft vermutlich ins Fäustchen lachen, wenn wir alle bei Kauderwelsch wie „Eurobonds“, „Bad Bank“, „Leitzins“ oder „Leerverkauf“ innerlich abschalten. Zu sagen, man könne sich über die Finanzkrise keine Meinung erlauben, weil man sie nicht verstehe, ist letztlich nur eine Ausrede dafür, dass man sich nicht damit beschäftigen und keine Verantwortlichen benennen will.

Wir sind Hamlet und das ist eine Tragödie

Ungerechtigkeiten sind das Ergebnis sehr einfacher Machtbeziehungen, die Komplexität der Medien-Realität verschleiert das nur. Die Gefahr besteht darin, dass die Unübersichtlichkeit von den Machtträgern gegen uns verwendet wird, als Verschleierung der Ungerechtigkeit, die nur existiert, weil in dieser komplizierten Welt globalisierte Prozesse vor sich gehen, für die niemand verantwortlich ist. Nehmt ihnen diese Welt weg.

Eine dezentralisierte Welt wird nicht einfacher sein, aber besser. Einfache Lösungen bedeuten immer Hierarchien, verfestigte Führungseliten und ungleich verteilte Macht. Willst du eine einfache Welt, willst du eine ungerechte. Die Verwirrung, die wir spüren, bedeutet Vielfalt und nicht Gefahr. Der Glaube, dass die Welt früher einfacher zu verstehen war, weil sie noch nicht global vernetzt war, ist nur zur Hälfte wahr. Sie war früher in vielerlei Hinsicht genauso komplex wie heute, wir waren nur besser und strenger darin, dies höflich zu übersehen und unsere vereinfachenden Kontexte über das Chaos zu kleben. Genauso einfach ist es, die Komplexität der Gegenwart als Scheinursache für den Verfall der Sitten hinzustellen, damit wir uns zum Handeln unfähig fühlen (das Hamlet-Problem – je mehr ich weiß, desto unfähiger bin ich zum Handeln). Leider ist es ein menschliches Grundbedürfnis, immer die einfachere, plausiblere Lösung zu bevorzugen und alle Zwischentöne zu missachten.

Ich will keine einfachen Lösungen mehr

Eigentlich ist es erstaunlich, dass Ockhams Rasiermesser so lange als Mittel der Wissenschaft durchgehalten hat, wenn man bedenkt, wie komplex unsere Wirklichkeit ist, in der die einfachere Erklärung nicht immer die wahre ist. Würde man Ockhams Rasiermesser an der Quantenphysik ansetzen, es gäbe diese Wissenschaft vielleicht heute gar nicht. Wer zu oft mit Ockhams Rasiermesser hantiert, schneidet sich irgendwann.

Denn das Bedürfnis nach Einfachheit kann leicht neuen Hunger nach Religion und Nationalismus wecken; das eine ordnet die Weltzusammenhänge wieder ganzheitlich ein, das andere versucht die Globalisierung auszuschalten, um geistige und geographische Rückzugsorte zu schaffen. Die Vielfalt wird jedoch darunter leiden. Das ist einfach kein gangbarer Weg mehr, wir müssen uns daran gewöhnen, dass es alles etwas… komplizierter wird. Manche Menschen tendieren dazu, vor der Wirklichkeit zu kapitulieren, weil sie sie nicht mit einer einfachen Weltsicht bändigen können. Stattdessen befürworten sie die Anarchie als Gegenmodell, aber auch das ist eine zu einfache Lösung, da sie von einem „entweder (einfache Lösung) oder (gar keine Lösung)“ ausgeht. Wo es kompliziert wird, müssen Diskurse gehalten werden. Das ist zwar keine einfache Welt, aber eine bessere.

Nur in einer dezentralen, nicht-hierarchischen, sprich, unübersichtlichen Welt verlieren vermachtete Strukturen ihren Einfluss. Die Macht von Werkzeugen wie dem Internet besteht ja gerade ihrer wild wuchernden Unbestimmtheit. Ich will keine einfachen Lösungen mehr – sie sind seit Jahrtausenden unser Problem.

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