Neusprech – Wie man ohne Argumente überzeugt

Neusprech – Wie man ohne Argumente überzeugt

Was sich hinter Wörtern wie „Finanzindustrie“ oder „grundrechtsschonend“ verbirgt, ab wann ein Wort eigentlich Neusprech ist und ob wir unsere eigenen Kampfbegriffe erfinden müssen.

Ich hab da so ’ne Theorie: Durch Sprache kann das politische Denken von Menschen manipuliert werden. Zugegeben, dass ist weder eine besonders neue noch besonders originelle Aussage, aber sie beschreibt im Wesentlichen das, was das Wort „Neusprech“ auszudrücken versucht. Da ich mich in meinen bisherigen Essays immer wieder auf diesen etwas ominösen Begriff bezogen habe, hielt ich es für angemessen, ihm einmal einen eigenen Blogpost zu widmen.

Arbeitsdefinition: „Neusprech“ ist ein vor allem im Umfeld von Netzaktivisten, Podcastern und Bloggern gebrauchter Begriff, der in abwertender Weise einzelne Wörter bis hin zu ganzen Rede-Strategien kritisiert, welche von Politikern, Lobbyisten oder Wirtschaftsvertretern verwendet werden, um für die Bevölkerung nachteilige Vorhaben oder Entscheidungen zu legitimieren oder als wünschenswert erscheinen zu lassen.

(Die meisten Neusprech-Beispiele, die ich im Folgenden nennen werde, stammen aus dem Buch „Sprachlügen“ (siehe „Zum Weiterlesen“) bzw. von Neusprech.org und sind dementsprechend verlinkt.)

Wie man Neusprech erkennt

Ein kurzes Beispiel: „Finanzindustrie“. Diese Bezeichnung der Finanzbranche ist verklärend, denn das Wort „Industrie“ erinnert uns an große Fabriken, in denen etwas produziert wird, mancher assoziiert das Wort vielleicht noch mit fleißigen Arbeitern, die die Wirtschaft des Landes am Laufen halten. In der Finanzbranche wird jedoch nichts produziert, es entsteht nur in einem fragwürdigen Vorgang Geld aus Geld oder aus Spekulation (zur „Finanzindustrie“ gesellt sich das noch absurdere „Finanzprodukt“). Anderes Beispiel: Gerne wird von Entscheidungsträgern das wohlklingende Wort „Harmonisierung“ verwendet, wenn es darum geht, unangenehme Rationalisierungen schön zu reden.

Viele Neusprech-Wörter erkennt man auf den ersten Blick gar nicht, da sie ganz selbstverständlich gebraucht werden – und ebenso selbstverständlich gehen einem die Denkmuster ein, die an diesen Begriffen haften. Ein Klassiker ist das Begriffspaar „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“, das heute im Sinne von „Unternehmen“ und „Angestellte“ verwendet wird. Eigentlich müsste es aber genau umgekehrt heißen, denn der Angestellte ist es, der seine Arbeitskraft gibt, während das Unternehmen sie nimmt um daraus einen Mehrwert zu erwirtschaften. Als „Arbeitgeber“ können die Chefs hingegen als gönnerhafte Verteiler einer kostbaren Ressource auftreten, während die Arbeiter sich als „Arbeitnehmer“ wie passive Bittsteller fühlen.

Man achte bei politischen Äußerungen auch auf scheinbar harmlose Floskeln wie: „Natürlich freuen wir uns, wenn Infrastrukturprojekte wie Stuttgart 21 von den Bürgern kritisch begleitet werden.“ Hier sollen die Kritiker verbal in die Defensive bugsiert werden, denn „kritisch begleiten“ heißt: Nicht einmischen, sondern nebenher mitlaufen und Klappe halten.

Oft erkennt man Neusprech aber schon auf den ersten Blick, wenn es sich nämlich um besonders kuriose Wortkonstruktionen handelt, zum Beispiel „Lohnzurückhaltung“, „marktkonforme Demokratie“ oder „grundrechtsschonend“. Letzteres Wort wird meist bei Anlässen folgender Art verwendet: „Wir wollen gerne ein paar neue Überwachungs-Techniken einsetzen, aber keine Sorge, wir werden dabei grundrechtsschonend vorgehen.“ Im Klartext: Wir werden etwas tun, was eigentlich das Grundrecht verletzt, aber wir werden es nur ein bisschen verletzen. Quantitative Abmilderungen spielen im Falle des Grundrechts aber keine Rolle, entweder wird es verletzt oder nicht.

Sprachvernichtung als Gedankenkontrolle

Doch woher kommt „Neusprech“ eigentlich? Der Ursprung dieses Begriffes liegt in George Orwells dystopischen Roman „1984“, der 1949 erschienen ist. Das Buch beschreibt den perfekten totalitären Staat: Es herrscht Vollüberwachung, überall hängen Kameras, Privatsphäre und politische Freiräume werden in keinerlei Weise geduldet. Die Menschen werden mit Propaganda und Lügen zugeschüttet, jegliche Subversion gegen den Staat wird brutal erstickt, Kinder denunzieren ihre Eltern. Doch all das reicht der Partei rund um den „Großen Bruder“ nicht aus: Sie möchte auch den letzten Rückzugsort für Kritik und Subversion kontrollieren, der den Menschen noch bleibt – ihre Gedanken.

Dafür erschuf Orwell in „1984“ eine der unheimlichsten Erfindungen der Literaturgeschichte: Neusprech (im Original „Newspeak“). Die Partei des totalitären Staates plant, das normale Englisch durch eine extrem simplifizierte Sprache zu ersetzen, welche der geltenden Ideologie „Engsoz“ (englischer Sozialismus) nicht widersprechen kann. Viele „Altsprech“-Begriffe werden dazu entweder komplett gestrichen oder durch lediglich einen ersetzt. Beispielsweise werden „wunderbar“, „großartig“, „toll“, usw. zu „gut“ rationalisiert, welches noch zu „plusgut“ oder „doppelplusgut“ gesteigert werden kann. Für „schlecht“, „böse“ „unangenehm“, „widerlich“ usw. gibt es ebenfalls nur noch ein Wort: „Ungut“ (auch hier kann mit „plusungut“ usw. gesteigert werden). Andere Worte wie „Ehre“, „Moral“ oder „Wissenschaft“ existieren in Neusprech nicht mehr – sie werden unter „Engsoz“ subsumiert. Ein Satz in Neusprech kann zum Beispiel lauten: „Altdenker unbauchfühl Engsoz.“ Eine mögliche Übersetzung wäre: „Diejenigen, deren Ideen vor der Revolution geformt wurden, können die Prinzipien des englischen Sozialismus gefühlsmäßig nicht voll erfassen.“ (S. 376, George Orwell, 1984, Heyne 2002).

Das Ziel dieser Sprachvernichtung ist monströs: Neusprech ist so konzipiert, dass jegliche „Gedankenverbrechen“, also kritische Gedanken gegen den Staat, von vornherein ausgeschlossen sind. Man ist nicht mehr in der Lage, gegen die Herrschenden aufzubegehren, weil man sich dies gar nicht vorstellen kann. Für alle Mängel und Repressionen gibt es einfach keine Namen mehr, ebenso wenig wie für Konzepte von Demokratie oder Gerechtigkeit.

Von dieser alptraumhaften Vision sind wir heute zum Glück weit entfernt, aber dennoch ist das, was wir gegenwärtig als Neusprech bezeichnen, in seiner Wirkungsweise ähnlich perfide, da es unser Denken in bestimmte Bahnen lenkt. Besonders perfide ist, dass uns – im Gegensatz zu „1984“ – oft gar nicht klar ist, dass wir es mit einem manipulativen Begriff zu tun haben. Wann immer in den Medien neue Wörter kursieren oder Politiker verstärkt gewisse Redewendungen verwenden, gilt es, wachsam zu sein: Alle Arten von merkwürdigen Wortkombinationen („Schutzwaffe“), Floskeln („bedauerliche Einzelfälle“), Anglizismen („Targetet Killing“), Neologismen („Biosprit“), reißerischen („Fortschrittsverweigerer“) und bürokratischen Begriffen, deren Sinn eigentlich nicht ersichtlich ist („Antiterrordatei“), sollten daher kritisch betrachtet und auf ihren eigentlichen Sinn hinterfragt werden.

Modernes Neusprech

Der Blog „Neusprech.org“ machte sich 2010 Orwells Begriff zu Eigen und bezeichnete damit vor allem Wörter aus der Politikersprache. Betrieben wird der Blog vom Zeit-Online-Journalisten Kai Biermann und dem Linguisten und Chaos Computer Club (CCC)-Mitglied Martin Haase (maha). In ihren Artikeln stellen sie Begriffe wie „alternativlos“, „potenzieller Gefährder“ oder „Vorratsdatenspeicherung“ vor und offenbaren deren versteckte Botschaften und sprachliche Absurditäten.

Dieses Neusprech entspricht der obigen Arbeitsdefinition. Besonders häufig tauchen im Neusprech-Blog Worte aus den Bereichen innere Sicherheit und Wirtschaft auf, letztlich blühen Begriffe dieser Art aber überall dort, wo es darum geht, unpopuläre und problematische Politik zu verkaufen. Der Übergang zwischen Neusprech und Marketing-Begriffen („just in time“, „nachhaltig“, „kostenneutral“) ist fließend.

Es ist schwierig, verschiedene Formen oder Kategorien von Neusprech zu identifizieren, allerdings ist mir aufgefallen, dass man meist zwei Funktionen von Neusprech unterscheiden kann:

1. Vernebelung: Verhinderung von Verständnis. Für die Bürger unangenehme Maßnahmen werden mit Neologismen, bürokratischen, technischen oder fremdsprachlichen Begriffen eingenebelt. Sie klingen seriös und keiner kann sich etwas unter ihnen vorstellen. Beispiel: „Cyberabwehrzentrum“. Das Wort „cyber“ bezeichnet soviel wie „irgendwas mit Internet“; es ist einfach überhaupt nicht klar, wer oder was hier eigentlich abgewehrt werden soll, geschweige denn, weshalb.

2. Umdeutung: Um die gesellschaftliche Meinung zu lenken, werden in Debatten tendenziöse Begriffe verwendet. Diese können zum einen reißerisch sein, um Ängste zu schüren und die bezeichneten Personen oder Sachverhalte vorab zu brandmarken. Beispiele sind „Raubkopien“ für online heruntergeladene Songs oder „Killerspiele“ für Ego-Shooter. Mit diesen Begriffen lässt sich keine sachliche Diskussion über das jeweilige Thema führen, da in ihnen bereits die deutliche Meinung einer Seite enthalten ist.

Umgekehrt kann natürlich versucht werden, politisch bedenkliche oder gefährliche Entscheidungen durch Euphemismen zu verharmlosen oder durch positiv klingende Bezeichnungen aufzuwerten. Beispiel: „Moderne Ermittlungsmethoden“. „Modern“ ist für die meisten Menschen ein Synonym für Fortschritt und Verbesserung. Deshalb nimmt es der Polizei niemand übel, wenn sie fordert, „moderne Ermittlungsmethoden“ bei der Verbrecherjagd einzusetzen. Gemeint sind mit diesen Methoden allerdings Überwachungstechniken wie Funkzellenabfragen, Vorratsdatenspeicherung oder Online-Durchsuchungen (weitere euphemistische Neusprech-Begriffe…).

Sollten wir selber Neusprech benutzen?

Man könnte nun sagen: Das ist zwar alles nicht schön, aber letztlich sind es doch nur Wörter. Ich denke, es wäre fatal, die Mächtigkeit von Neusprech zu unterschätzen, denn unsere Sprache formt unser Denken. Sie ist eines der wichtigsten Mittel, um unsere politische Meinung zu beeinflussen und damit auch unsere Entscheidungen. Wie kann man sich also gegen Neusprech wehren?

Ich habe maha diese Frage gestellt, als ich einmal das Vergnügen hatte, ihn für die taz zu interviewen: Er empfahl zum einen, in Gesprächen auf die Fragwürdigkeit von Begriffen hinzuweisen, und im besten Fall ein inhaltlich korrekteres Wort zu verwenden. Die Erfindung eigener Gegenbegriffe sah er etwas zwiespältig, er riet auf jeden Fall dazu, präzisere Wörter zu verwenden. Die Vergangenheit zeigt, dass dies durchaus wirkungsvoll sein kann:

Seit 1999 werden in Deutschland Wahlcomputer zur Stimmerfassung verwendet, 2005 erstmals im großen Umfang bei einer Bundestagswahl. Die verwendete Technik wurde allerdings lange Zeit als „Wahlmaschine“ oder „Wahlgerät“ bezeichnet, was den Eindruck einer simplen mechanischen Vorrichtung erweckt. Tatsächlich handelte es sich dabei jedoch um Computer, die genau wie alle Computer auch Fehler machen und gehackt werden können. Der CCC verwendete daher bei ihrer Kritik stets die Bezeichnung „Wahlcomputer“, die schnell von Justiz und Medien übernommen wurde. 2009 wurden Wahlcomputer vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt.

Hier gibt es eine Diskrepanz: Wieso reden wir im Fall von „Wahlcomputern“ nicht von Neusprech? Auch wenn er korrekter ist, ist „Wahlcomputer“ doch ebenfalls ein Begriff, der die öffentliche Meinung beeinflussen will. Noch stärker kann man dies an reißerischen Wortschöpfungen wie „Nacktscanner“ oder „Bankster“ sehen. Ich war zunächst der Ansicht, dass diese Wörter nicht als Neusprech bezeichnet werden können, da Neusprech sowohl in „1984“ als auch aus der Sicht des Neusprech-Blogs die Sprache der Mächtigen und Regierenden ist. Doch was ist mit Begriffen, die von Lobby-Gruppen geprägt werden? Gehören sie zu den Mächtigen oder nicht? Auch der CCC kann als Lobby-Gruppe bezeichnet werden, wo zieht man also die Grenze?

Schwierig einzuschätzen ist auch die Stellung des Journalismus: Zum einen ist die Presse zwar der Hauptverbreitungsweg für das Neusprech der Mächtigen, andererseits greift sie ebenso dankbar griffige Wörter aus dem Netz oder von Aktivisten auf. Vor allem aber entscheiden Journalisten, welche Wörter sie benutzen und können selbst welche erfinden.

Und was ist mit Schlagwörtern wie „Herdprämie“, die durchaus den Charakter eines Totschlagarguments haben (ich bin auch kein Freund des sogenannten Betreuungsgeldes, aber Herdprämie ist definitiv Neusprech)? Dieser Begriff stammt schließlich von Politikern, nämlich von Seiten der SPD, Linken und Grünen. Als Wortschöpfung von Politikern müsste er also beim Neusprechblog auftauchen. Dort gibt es aber lediglich einen Eintrag für „Betreuungsgeld“. Der erste Satz des Artikels lautet: „Verunglimpfend und nicht ganz falsch auch Herdprämie genannt.“ Man ahnt es langsam: Auch der schmähende Begriff „Neusprech“ ist letztlich – Neusprech.

Es macht also keinen Sinn, zwischen Begriffen der Mächtigen und der Gegenseite zu unterscheiden, sondern lediglich zwischen Begriffen verschiedener politischer Lager, egal ob sie in Machtpositionen sitzen oder nicht. Das Einzige was man tun kann ist, sich stets bewusst zu sein, welche Wörter man benutzt, zu überprüfen, ob sie mit der eigenen politischen Meinung übereinstimmen und sie dementsprechend zu verwenden. Das ist völlig legitim, denn Sprache ist demokratisch und kann von uns allen benutzt werden. Wir müssen von der Macht der Sprache Gebrauch machen und den Diskursen der politischen Gegner unsere eigenen Diskurse entgegenhalten.

Also: Erfindet Begriffe für Dinge, die noch keinen Namen haben, versucht euch vorzustellen, dass Dinge anders genannt werden könnten als so, wie sie schon seit langem genannt werden, hinterfragt scheinbar „alternativlose“ Bezeichnungen und findet ein – aus eurer Sicht – besseres Wort.

Zum Weiterlesen, -hören und -sehen:

„1984“ George Orwell, Heyne 2002

„Sprachlügen – Unworte und Neusprech von Atomruine bis zeitnah“ Kai Biermann, Martin Haase, Fischer 2012

Neusprech.org

Neusprechfunk – Podcast zum Neusprech-Blog

Vortrag von maha auf dem Chaos Communication Congres 2009

Alternativlos Podcast-Folge 12 – maha und Kai Biermann im Interview

Wikipedia: Dysphemismus

Wikipedia: Sprachmanipulation

Wikipedia: Politische Schlagwörter

3 Gedanken zu „Neusprech – Wie man ohne Argumente überzeugt

  1. Hallo
    Sehr schöner Artikel ! War für mich neu dieses Neusprech, wohl auch deshalb weil ich dagegen immun bin. Der Arbeitgeber ist auch in meinen Augen mein Chef und doch ist mir klar das er Arbeitskraft von mir bekommt, und wohl auch nicht immer angemessen vergütet.

    „Von dieser alptraumhaften Vision sind wir heute zum Glück weit entfernt“,

    Hier musste ich aber spontan mal nachschauen wann der Artikel geschrieben wurde und richtig es war doch schon 2 Jahre her!
    Was haben wir in dieser Zeit Fortschritte gemacht beim Neusprech ! Alle Achtung!

  2. Pingback: Politische Korrektheit und Neusprech: Werkzeug des Totalitarismus – EIKE – Europäisches Institut für Klima & Energie

  3. Pingback: Politische Korrektheit und Neusprech: Werkzeug des Totalitarismus - Leserbriefe

Schreibe einen Kommentar zu Bernd Gehrke Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert