Kurz-Definition: „Liberal-Extremismus“ bezeichnet radikale und antidemokratische Strömungen innerhalb des Liberalismus, die den Staat zu Gunsten der Märkte minimieren wollen.
„Liberal“ ist ein schizophrener Begriff: Zum einen wird er klassisch als „freiheitlich“ verstanden (Stärkung des Individuums und der Bürgerrechte), zum anderen verbinden mittlerweile viele Menschen „liberal“ mit einer einseitigen Begünstigung und Deregulierung der Wirtschaft gegenüber dem Sozialwesen, der Bildung, der Umwelt und den Bürgerrechten. Für diese Verschiebung haben sich unter anderem Bezeichnungen wie Wirtschaftsliberalismus oder Neoliberalismus eingebürgert, doch ich finde, wir bräuchten eher einen Begriff, der allgemeiner und schärfer die Auswüchse wirtschaftsliberaler Politik und ihrer Gefahren einordnet.
Es macht daher Sinn von „Liberal-Extremismus“ zu sprechen, um klar zu machen, dass es nicht nur an den politischen Polen „rechts“ und „links“ extremistische Tendenzen geben kann, sondern auch im vermeintlich gemäßigten Liberalismus. Wenn wir uns die heutige Welt ansehen, in der große Unternehmen ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen können, deregulierte Finanzmärkte ganze Volkswirtschaften bedrohen und Wirtschaftsverbände stellenweise mehr Macht zu besitzen scheinen, als Staaten, müssen wir uns fragen, ob Liberal-Extremismus nicht mindestens genauso gefährlich ist, wie Rechts- oder Linksextremismus – wenn nicht sogar gefährlicher.
Ideologien der Gier
Maßgeblich mitverantwortlich für diese Situation sind Vertreter liberaler bzw. libertärer Ideologien, die besonders in der angelsächsischen Welt großen Einfluss besitzen und die eine drastische Minimierung des Staates zu Gunsten eines freien Marktes fordern. Der Staat wird von ihnen als übermäßiger Eingriff in die individuelle Freiheit des Menschen abgelehnt, nur um sie durch den willkürlicheren Zwang einer unabwählbaren Wirtschaftsmacht zu ersetzen. Ich spreche dabei nicht vom normalen Liberalismus, sondern von seiner pervertierten Form als Ideologie der blanken Gier.
Die Namen dieser Ideologien sind Minarchismus, Paläolibertarismus oder Anarchokapitalimus, zu deren prominentesten Vertretern durchaus angesehene Ökonomen wie Murray Rothbard oder David D. Friedmann zählen. Da Freiheit von ihnen in einem totalen Sinne verstanden wird, lehnen sie unter anderem demokratische Strukturen als Formen staatlichen Zwangs ab, auch die Menschenrechte werden von einigen liberal-extremistischen Vertretern als verhandelbar angesehen, der Anarchokapitalist Hans-Hermann Hoppe (der übrigens schon für die „Junge Freiheit“ ein Interview gegeben hat) fordert gar „Freiheit statt Demokratie“.
Nicht nur an den Rändern lauert Gefahr
Ob bewusst oder unbewusst arbeiten Liberal-Extremisten mit ihrer Ablehnung des Staates darauf hin, demokratische Grundprinzipien wie das System aus Legislative, Judikative und Exekutive über Bord zu werfen und es stattdessen dem Markt zu überlassen, entsprechende Dienstleistungen an den Meistbietenden zu verkaufen. Wann immer Gier und Marktinteressen zum höchsten Wert erhoben werden, kann man von Liberal-Extremismus sprechen.
Nicht zu verwechseln mit Liberal-Extremismus so wie ich ihn verstehe ist der „Extremismus der Mitte“. Dabei handelt es sich um eine Ende der 50er Jahre formulierte Theorie des Soziologen Seymour Martin Lipset, die besagt, dass nicht nur gesellschaftliche Randgruppen extremistische Potentiale besitzen, sondern dass es diese auch in der Mehrheitsgesellschaft geben kann. Ausgangspunkt für diese Theorie war der Nationalsozialismus, da die Machtergreifung der Faschisten nachweislich durch den deutschen Mittelstand getragen worden war. Hier wird also von der Mitte der Gesellschaft gesprochen, nicht vom Liberalismus als Politik der Mitte zwischen rechts und links.