Hupen
Auto-Hupen sind ein in Deutschland relativ sparsam eingesetztes Signal, um andere Verkehrsteilnehmer auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen. In (süd)indischen Großstädten hingegen ist das Hupen ein nahezu gewohnheitsmäßiges Kommunikationsmittel, deren Benutzung eher die Regel als die Ausnahme ist. In anderen Worten: Es wird einfach ununterbrochen gehupt, im Schnitt benutzt jeder Verkehrsteilnehmer die Hupe etwa alle drei bis fünf Sekunden (so am extremsten erlebt in Chennai).
Dazu muss man wissen, dass auf Straßen egal welcher Größe die Regel gilt: Man fährt überall, wo Platz ist. Und da viele Inder mit Motorrädern und Motorrollern fahren, gibt es natürlich dauernd Lücken, in die man hineinschlüpfen kann. So ist der normale Verkehr ein ständiges Überholen und Überholtwerden, und das Hupen dient dazu um a) die anderen Verkehrsteilnehmer aus Sicherheitsgründen zu informieren, dass man jetzt überholt und b) als Aufforderung, bitte Platz zu machen. Dann gibt es noch das prophylaktische Hupen: Wenn man in eine schwer einsehbare Kurve einbiegt oder auf einer gerade Straße jemand zu nah am Straßenrand läuft, hupt man vorsichtshalber auch immer, um Unfälle zu vermeiden (dennoch sind Unfälle alltäglich).
Trotz des ganzen Gehupes (die klangliche Vielfalt der Huptöne ist nebenbei bemerkenswert) verhalten sich die Leute nie agressiv, man sieht niemanden herumschreien oder gestikulieren. Der Verkehr ist zwar chaotisch, aber es ist ein von allen akzeptiertes Chaos, und die Inder bewegen sich ertstaunlich sicher und gelassen durch den Straßendschungel. Ab und zu passiert es aber doch, dass zwei Verkehrsteilnehmer aneinander geraten: Dann steigen beide aus und brüllen sich ein paar Minuten gegenseitig an, während der Rest der Verkehrsteilnehmer interessiert zusieht. Anschließend steigen beide wieder in ihr Gefährt und es geht weiter. Habe ich selber zwar noch nicht beobachtet, aber so hat es mir eine Freiwilligenhelferin von einer Waldorfschule in Hydarabad erzählt.
Hakenkreuze
Eine Erfahrung, die wohl jeder deutsche Indienreisende macht: Man läuft durch eine Stadt und zuckt plötzlich zusammen, weil ein großes Hakenkreuz auf einer Hauswand prangt (eventuell noch zusammen mit einem „Om“-Zeichen und einem freundlichen Ganescha). Dann muss man sich jedesmal kurz innerlich sammeln und sich vergegenwärtigen, dass das Symbol des absoluten Bösen hierzulande schlicht und ergreifend ein uraltes Zeichen für Glück und die Vorwärtsbewegung der Sonne ist, das nur von den Nazis mißbraucht wurde. Daher findet man Hakenkreuze in Indien überall: An Hauswänden, mit Kreide auf Türschwellen gezeichnet, in Tempel-Ornamenten, auf Statuen, usw. So richtig habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, auch wenn das indische Hakenkreuz spiegelverkehrt zum nationalsozialistischen Hakenkreuz ist und oft noch vier Punkte in jedem Winkel hat.
Ich habe einmal meinem Host auf meiner Farm versucht zu erklären, warum Deutsche anders als etwa Amerikaner nicht so viel mit Patriotismus anfangen können: „Also, das hat halt mit unserer Geschichte zu tun. (kurze Denkpause) Äh, du weißt, wer die Nationalsozialisten waren?“ „Nein.“ „Oh, ok… Aber du weißt, was der Holocaust ist?“ „Nein.“ „…“ (sprachloses Erstaunen, mein Host hat schließlich studiert und arbeitet viel mit dem Internet) „Okaay, also…“ Und dann hab ich ihm tatsächlich eine halbe Stunde lang mit meinem Smalltalk-Englisch versucht zu erklären, wer die Nazis waren, was der Holocaust war, wer Hitler war und dass die Deutschen den Krieg angefangen haben (das wusste er auch noch nicht). Er war ziemlich erstaunt und schockiert und konnte es gar nicht fassen, in seinem Schulunterricht war darüber einfach nicht viel erzählt worden.
Für mich war es eine sehr ungewohnte und bedrückende Erfahrung, jemanden all das im Schnelldurchlauf einmal zu erklären, und ich hoffe, ich muss es so schnell nicht wieder tun. Zum Schluss habe ich dann noch gesagt: „Tja, jetzt weißt du, wie ich mich immer fühle, wenn ich hier Hakenkreuze sehe…“ Traurig, dass dieses tausende Jahre alte Symbol, das für so viele positive Dinge steht, innerhalb weniger Jahre derart besudelt wurde.
Heilige Bärte
Natürlich ist mir in meinen ersten Tagen in Indien sofort aufgefallen, dass sehr viele Männer Schnurrbärte tragen. Das hat mich etwas belustigt, da ich ehrlich gesagt Männer mit dicken Schnauzern nie richtig ernst nehmen kann. Viele Inder nehmen ihre Barttracht jedoch überaus ernst, wie mir mein Farm-Host erklärte: Wenn jemand zum Frisör/Brabier geht, um sich den Bart schneiden zu lassen, dann ist damit vor allem der Bart auf den Wangen und am Kinn gemeint. Sollte der Frisör jedoch nur ein paar winzige Härchen vom Schnauzer abschneiden, kann es sein, dass der Kunde sehr agressiv wird und den Fisör sogar körperlich angreift. Ich musste unwillkürlich an diverse Fantasy-Rollenspiele geben, wo die Zwerge immer unglaublich stolz auf ihre Bärte sind und es als größte Demütigung gilt, wenn sie abgeschnitten werden…
Ein Couchsurfer aus Polen, den ich in Indien getroffen habe, hat mir noch eine andere Story zum Thema Bärte erzählt: Er war einmal bei einer sehr traditionellen Hindu-Familie zu Gast, die über seinen über Monate gewachsenen Globetrotter-Bart nicht gerade erfreut war: „Hier in unserem Haus dürfen nur Hindu-Gurus Bärte tragen!“ Er hat ihn sich daraufhin also abrasiert.
Bärte galten galten übrigens seit dem Mittelalter auch in Europa als Zeichen der Männlichkeit (wer hat den Längsten?). Wenn man auf irgendetwas geschworen hat, sagte man: „Bei meinem Barte!“ Aus dem islamischen Raum kennt man eine ähnliche Redensart: „Beim Barte des Propheten!“
Da lange Bärte oft als ein Zeichen gelten, dass jemand gläubiger Muslim ist, gab es 2002 nach religiösen Unruhen im indischen Gujarat sogar den „Trend“, dass sich Hindus die Bärte abrasierten, um nicht für Muslime gehalten zu werden.
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