Multireligiösität
In Deutschland gibt es ja immer noch viele Menschen, die bei einem Satz wie „Der Islam gehört zu Deutschland“ empört nach Luft schnappen und die nächste Blödiga-Demo starten, sobald sie ein Minarett sehen. In diesem Punkt hat Indien Deutschland wirklich etwas voraus, denn insbesondere in Südindien leben Hindus, Muslime, Christen, Sikhs und Jains völlig selbstverständlich nebeneinander, und zwar im ganz buchstäblichen Sinne: Einmal habe ich tatsächlich eine Moschee gesehen, die direkt neben einer christlichen Kirche stand – in Deutschland unvorstellbar! Ich habe sogar hin und wieder Sticker und kleine Schreine gesehen (z.B. in Bussen), auf denen Jesus, Krishna/Ganesh und die Kaaba/eine Moschee friedlich nebeneinander dargestellt waren.
Ich finde das bemerkenswert, denn in Indien gibt es aufgrund des endlosen Konflikts mit Pakistan (siehe Kashmir) leider immer wieder mal terroristische Anschläge mit islamistischen Hintergrund. Angesichts dessen geht man nach meiner Wahrnehmung in Indien ziemlich locker mit dem Nebeneinander so vieler Religionen um.
Hautbleichung
Es herrscht eine Art von Rassismus bzw. Lookismus in Indien, der vor allem über die Medien und Film/Fernsehen transportiert wird: Je weißer die Haut, desto schöner. Obwohl die Mehrheit der Inderinnen und Inder dunkelhäutig sind, habe ich weder auf Werbeplakaten noch im Fernsehen jemals dunkelhäutige Models oder Schauspieler gesehen. Das allgemeine Schönheitsideal orientiert sich am Westen, also an hellhäutigen Menschen. Daher wird man in Indien als weißer Europäer auch meist sehr freundlich behandelt.
Ich fand das teilweise echt gruselig, denn die Personen auf diesen Werbeplakaten sehen oft so gebleicht und überschminkt aus, dass sie sehr unnatürlich wirken (vom Photoshopping mal abgesehen, dass sicher auch eingesetzt wird). Der Effekt davon ist unter anderem, dass dunkelhäutige Inderinnen und Inder so gut wie keine Chance haben, Karriere in Film und Fernsehen zu machen oder Models zu werden. Eine Ausnahme ist die indische Schauspielerin Nandita Das, die in vielen großen Filmen mitspielt, obwohl sie viel dunkelhäutiger als die üblichen indischen Filmheldinnen ist. Sie beteiligt sich auch an der Kampagne „Dark is beautiful“, die sich gegen diesen innerindischen Rassismus einsetzt.
Da die Medien unablässig die Vorstellung verbreiten, dass man mit heller Haut schöner ist, existiert eine ganze Kosmetik-Industrie für Hautbleichungs-Produkte, das bekannteste davon ist „Fair & Lovely“ für Frauen und „Fair & Handsome“ für Männer (von Unilever). In den Werbespots werden zum Teil dunkelhäutige Frauen gezeigt, die unglücklich und deprimiert sind, weil sie keinen Mann abkriegen und keinen Erfolg im Job haben. Doch dann benutzen sie „Fair & Lovely“ und auf einmal mögen sie alle… Einfach nur zum Kotzen.
Wie sich Inder mit dunkler Haut durch diese Abwertung ihrer Hautfarbe fühlen, kann man sich lebhaft ausmalen. Und wie man am Beispiel der Filmindustrie sieht, kann die Hautfarbe darüber entscheiden, ob man sozial aufsteigt oder nicht. Auch bei der Partnerwahl ist die Hautfarbe für viele Inder eines der Hauptkriterien, Selbstbeschreibungen in Kontaktanzeigen beginnen meistens mit dem Wort „Fair“ (hell). Dass sogar ein Bollywood-Superstar wie Shah Rukh Khan für diese Kosmetik Werbung macht, macht die Sache natürlich nicht besser.
Besonders absurd finde ich diesen Bleichungswahn, weil es in Deutschland bzw. Westeuropa genau andersherum ist: Hierzulande nehmen Menschen Selbstbräunungs-Kosmetik oder gehen ins Sonnenstudio, um dunklere Haut zu bekommen.
Gewichtszunahme-Produkte
Bereits der „Fair & Lovely“-Irrsinn hatte mich sehr verblüfft und geschockt, doch dann erzählte mir mein Farm-Host noch von etwas anderem: Er erwähnte, das einige Inder Nahrungsergänzungsmittel zur Gewichtszunahme verwenden würden. „Ah, kenne ich“, meinte ich. „Weil sie Bodybuilding machen und Muskeln bekommen wollen und so.“ Aber mein Host widersprach: Das gebe es zwar auch, aber hauptsächlich würden diese Gewichtszunahme-Produkte von Männern und Frauen genommen, die sich für zu dünn halten. Viele Inderinnen und Inder haben eine sehr hagere Statur, doch das Schönheitsideal scheint eher in Richtung „handsome“ zu gehen – man will vielleicht keinen fetten, aber doch einen „kräftigen“, wohlgenährten Körper haben.
Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass ein dünner Körper eher als ein Zeichen für Armut gilt – und arme, dünne Menschen sind in Indien ein alltäglicher Anblick – währenddessen Fett auf den Knochen eine Art Statussymbol dafür ist, dass man sich viel gutes Essen leisten kann. Ich schätze, dass dies in früheren Zeiten in Europa nicht anders war.
Mein Host sagte, dass manche Leute gelegentlich Bemerkungen über seine eigene Statur machen würden, da er ebenfalls sehr schlank und hager ist: „Sie denken dann, dass ich vielleicht was mit der Gesundheit habe.“ Ich musste fast lachen und meinte: „In Deutschland ist es exakt andersherum! Je schlanker man ist, für desto gesünder halten einen die Leute, und von dicken Menschen denkt man, dass sie ungesund leben.“ Ich erzählte ihm auch davon, dass es viele magersüchtige Mädchen und Frauen gibt, weil extrem dünne Models dieses Schönheitsideal vorleben würden, und sie immer denken, sie wären zu dick. Von Magersucht und Bullimie hatte er aber noch nie gehört.
Mein Host fragte mich, wie Menschen in Deutschland ihn mit seiner Statur wohl wahrnehmen würden? Ich konnte ihn beruhigen, dass er mit seiner schlanken, asketischen Figur in Deutschland definitiv als gesund und sportlich gelten würde.
Ich war völlig baff über diese geradezu spiegelverkehrte Situation zwischen Indien und der westlichen Welt, wo eher Fettleibigkeit als ein Zeichen von Armut gilt als Untergewicht. Besonders bezeichnend ist dieser kleine indische Werbeclip für das Gewichtszunahme-Produkt „Ayurvin Weight Gain“, denn es ist beinahe, als hätte man eine europäische Werbung für ein Diät-Produkt einfach umgedreht: Die Grafik zeigt einen dünnen Körper, der dick wird.
Sowohl die Hautaufhellungs-Kosmetik als auch die Gewichtszunahme-Produkte in Indien haben mir wieder mal vor Augen geführt, dass Menschen einfach immer unzufrieden mit sich selbst sind und stets das anstreben, was die Mehrheit nicht hat.