Wer alternativ ist, denkt progressiv, kritisch, links – oder? Von der drohenden Umdeutung einer unserer wichtigsten Ideen
„Alternative“ ist ein urdemokratisches Wort: Es bedeutet, zwischen zwei oder mehreren Optionen die Wahl zu haben. Es bedeutet, aus alten Denkmustern auszubrechen, scheinbar Normales zu hinterfragen, neue Wege zu gehen. Oft wird es als Synonym von „links-alternativ“ verwendet, als eine moderne Übersetzung von „utopisch“ im besten Sinne des Wortes.
Doch der emanzipatorischen Vokabel scheint ein Bedeutungswandel zu drohen: Eine rechtspopulistische Partei reklamiert erfolgreich für sich, eine „Alternative für Deutschland“ zu sein, ihr Wählerspektrum informiert sich bevorzugt in „Alternativmedien“ wie Russia Today, Compact oder KenFM. Wer nach „alternativ“ googelt, findet als siebenten Treffer das Video-Portal „Alternativ.TV“, eine bunte Mischung aus Verschwörungstheorien, Globalisierungskritik, Esoterik und rechter Hetze. Kürzlich ging die Trump-Beraterin Kellyanne Conway sogar so weit zu sagen, das Weiße Haus biete „alternative Fakten“ (also Lügen) an, weil dem Sprecher des Weißen Hauses die Berichterstattung über die Realität nicht gefiel.
Ein ähnliches Muster zeigt sich bei der „Alternativ-Medizin“, die ebenfalls einfache Lösungen für komplexe Probleme verspricht: Negativfolie von Homöopathen, Naturheilern und Anthroposophen sind allerdings nicht die etablierten Medien und Parteien, sondern die Schulmedizin.
Bei all diesen Beispielen zeigt sich, dass „alternativ“ in gewissen Kreisen immer mehr wie „postfaktisch“ verwendet wird, sowie im Sinne von „dagegen“ statt „für etwas anderes stehend“. Diese „Alternativen“ träumen nicht von etwas Neuem, sondern von etwas Altem, von der Vergangenheit.
Gegen den Mainstream
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich das Wort schon häufiger gewandelt hat: Ursprung ist das lateinische „alternus“ (abwechselnd), eine Ableitung von „alter“ (der eine von zweien, der andere). Unter dem Einfluss des Französischen kann „alternativ“ ab dem 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum auch „zwischen zwei Möglichkeiten die Wahl lassend“ heißen.
Erst im 20. Jahrhundert erhält der Begriff im amerikanischen Englisch die Bedeutung, die wir heute kennen: Als Schlagwort der Neuen Sozialen Bewegungen, die sich Ende der 60er Jahre aufmachten, Lebensentwürfe abseits des Mainstreams zu verfolgen. „Alternativ“ heißt nun „konkurrierend mit herrschenden Normen“ und „für eine andere Lebensweise eintretend“. Die meist links geprägten Neuen Sozialen Bewegungen wurden daher auch häufig „Alternativ-Bewegungen“ genannt.
Von „alternativlos“ zur AfD
Warum sich verschwörungstheoretische und rechte Kreise derzeit so „alternativ“ geben, könnte mit einem anderen Wort zusammenhängen: „Alternativlos“. Vor allem Angela Merkel besiegelte seit 2009 viele politische Entscheidungen mit dem Totschlagargument, sie seien nun mal „alternativlos“. 2010 wurde „alternativlos“ zum „Unwort des Jahres“ gekürt. „Behauptungen dieser Art sind 2010 zu oft aufgestellt worden, sie drohen, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken“, hieß es damals in der Begründung der Jury der Gesellschaft für Deutsche Sprache. Eine korrekte Einschätzung, die sich Rechtspopulisten zu Nutze machten: Im ersten Absatz der Präambel ihres Grundsatzprogramms schreibt die AfD, sie sei „eine Alternative zu dem, was die politische Klasse glaubt, uns als ‚alternativlos’ zumuten zu können.“
Dass eigentlich positive Begriffe oder Slogans von rechts gekapert oder abgewertet werden, ist kein neues Phänomen: „Asyl“, „Gutmensch“, „Political Correctness“ oder „Wir sind das Volk“ geben davon ein trauriges Zeugnis. Im Falle von „alternativ“ besteht die Gefahr hingegen in der Aneignung sowie im Querfront-Potential insbesondere durch die „Alternativ-Medien“, bei denen oftmals schwer zu unterscheiden ist, ob sie nun eigentlich rechts oder links oder sonstwo zu verorten sind.
Wo sind die echten Alternativen geblieben?
In den drei genannten Beispielen – AfD, Alternativ-Medien, Alternativ-Medizin – spiegelt sich der wachsende Vertrauensverlust der gesellschaftlichen Autoritäten Politik, Medien und Medizin wider. Dies ist eine typisch postmoderne Entwicklung und vielleicht sogar etwas Positives, um gesellschaftlichen Fortschritt zu befördern. Es ist richtig, diese Autoritäten zu kritisieren, so wie es immer richtig ist, Machtansammlungen zu kritisieren. Doch wenn diese Kritik immer wieder aus rechten und verschwörungstheoretischen Kreisen geäußert wird, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit und macht Kritik auf Dauer unmöglich.
Freilich: Ein echter Bedeutungswandel von „alternativ“ ist bislang noch nicht eingetreten. Dass aber zumindest Ansätze dafür zu beobachten sind, ist vielleicht ein Symptom dafür, dass linke und progressive Gruppen derzeit zu wenig glaubhafte Alternativen und Visionen anzubieten haben, an der sich zu Recht Frustrierte orientieren könnten.
Sprache ist mächtig: In ihr manifestieren sich Denkmodelle, Konzepte und Ideen. Das Konzept der „Alternative“ ist eine der wichtigsten Ideen, die wir haben, dank ihr wird ein Umdenken ermöglicht, verkrustete Strukturen aufgebrochen und gesellschaftlicher Fortschritt befördert. Aufmerksamkeit ist daher geboten, sich diese Idee nicht von Rechten und Verschwörungstheoretikern wegnehmen zu lassen.
Nachtrag vom 5.2.2017:
Die Alt-Right-Bewegung in den USA ist ein weiteres Beispiel.