Migration ist mehr Lösung als Problem

Warum unser Diskurs über Migration völlig verzerrt ist, wieso Abschiebungen die Kommunen nicht entlasten, wovon die SPD gerade ablenken will, und was unsere eigentlichen Probleme sind.

Was sind derzeit die größten Probleme in Deutschland? Klimawandel? Erstarkender Rechtsextremismus? Wachsende soziale Ungleichheit? Marode Infrastruktur? Quatsch – alles nur Kinkerlitzchen gegen unser eigentliches Hauptproblem – Migration!

In einer ARD-Umfrage vom 13. Oktober gaben 44 Prozent der Befragten an, dass sie „Zuwanderung / Flucht“ derzeit als das größte Problem in Deutschland betrachten. „Klimawandel“ fanden gerade mal 18 Prozent am schlimmsten, „Soziale Ungerechtigkeit“ nur 13 Prozent. Rechtsextremismus kam gar nicht vor.

Ist das euer Ernst?

Deutschland ist eines der Länder mit der ältesten Bevölkerung weltweit (aktuell auf Platz acht), massenhaft gehen Menschen in Pension, das Rentensystem wackelt und es fehlen Fachkräfte in allen Bereichen – DAS ist ein Problem! Lösen könnte man es – manche ahnen es schon – durch Migration.

Und das ist keine Forderung von linksgrünen Hippies sondern von der Deutschen Industrie- und Handelskammer. Auch die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer forderte kürzlich, Deutschland brauche jährlich 1,5 Millionen Zuwanderer, um die Zahl der Arbeitskräfte zu halten. „Wir brauchen dringend eine Willkommenskultur“, so Schnitzler.

Aber anstatt darüber zu sprechen, wie man mehr junge Menschen ins Land holen kann, haben wir nichts Besseres zu tun, als zum hundertsten Male die alte Zombiedebatte von der schlimmen Migration durchzukauen und absolut indiskutable Verschärfungen der Asylpolitik vorzunehmen.

Wie ausreisepflichtige Menschen zum Sündenbock gemacht werden

Unser Diskurs über Migration ist völlig verzerrt und angstgetrieben. Beispiel: Abschiebungen. Aktuell wird so getan, als müsse man nur genug Menschen abschieben, damit Kommunen, die mit der Unterbringung Geflüchteter Schwierigkeiten haben, entlastet werden.

Schauen wir mal auf die Zahlen: Derzeit sind in Deutschland rund 255.000 Menschen ausreisepflichtig, das heißt, ihr Asylantrag wurde abgelehnt. 80 Prozent von ihnen besitzen jedoch eine Duldung, weil sie aus verschiedensten Gründen nicht abgeschoben werden können (zum Beispiel weil sie keinen Pass haben, eine Ausbildung machen, zur Schule gehen oder krank sind). Bleiben also etwa 50.000 Personen übrig, die abgeschoben werden könnten.

Wir sprechen von 50.000 Menschen, die quasi allein dafür verantwortlich gemacht werden, die Kommunen zu überlasten. Zum Vergleich: 1,1 Millionen Geflüchtete allein aus der Ukraine sind rechtmäßig hier, aber irgendwie war nirgends ein großer Zusammenbruch der sozialen Infrastruktur in Deutschland zu beobachten.

Und was war mit der Migration der letzten Jahre seit 2015? Ist da die Bevölkerung so sehr angestiegen, dass wir sie nicht mehr verkraften konnten? Im Jahr 2014 lebten 81,2 Millionen Menschen in Deutschland, 2022 waren es 83,6 Millionen – Bevölkerungsexplosion sieht anders aus. Zur Erinnerung: Eigentlich bräuchten wir jährlich 1,5 Millionen Zuwanderer, um den Arbeitsmarkt stabil zu halten.

Sollte es möglich sein, dass ein reiches Land wie Deutschland doch nicht gleich kollabiert, wenn es ein paar hunderttausend Menschen aufnimmt? Könnte es eventuell sein, dass die Kommunen nicht wegen 50.000 ausreisepflichtigen Menschen gerade so viele Probleme haben? Könnte es sein, dass die Ampel-Regierung davon ablenken möchte, dass sie die Kommunen gerade massiv im Stich lässt, anstatt sie mit den nötigen Mitteln zur Unterbringung und Integration Geflüchteter zu unterstützen? Wie lenkt man am besten ab? Mit einem Sündenbock, der keine Lobby hat.

Statt ständig zu fragen, warum wir nicht schneller abschieben, sollten wir endlich lautstark fragen, warum der Bund die Kommunen mit Ansage in prekäre Situationen manövriert, die dann bei den Gemeinden verständlicherweise zu Unmut führt.

Anti-Migrationsnarrative debunken

Das nächste Narrativ, das hinterfragt werden sollte, ist das der überlasteten Kommunen: Natürlich gibt es die, gerade in strukturschwachen Regionen. Dabei gerät ein bisschen in Vergessenheit, dass sich 321 Kommunen zu sicheren Häfen erklärt haben und gerne bereit wären, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Bund, Länder und Kommunen müssten sich dazu einfach nur an einen Tisch setzen, wie die Migrationsforscherin Sabine Hess fordert – passiert ist bislang nichts.

Ein weiterer Klassiker: „Migration belastet unsere Sozialsysteme.“ Noch immer scheinen viele Deutsche die Vorstellung zu haben, dass Ausländer:innen nur bei uns einwandern, um hier direkt Bürgergeld zu beantragen und dann die Beine hochzulegen. Dabei wollen die meisten Einwander:innen arbeiten – wenn man sie denn lässt. Und sobald sie das tun, belasten sie die Sozialsysteme nicht, sondern entlasten sie, weil vor allem junge Menschen einwandern und hier Steuern und Abgaben bezahlen und damit die Renten sichern. Ob sie nun irregulär oder regulär eingewandert sind, ist erstmal zweitrangig – Deutschland braucht sie so oder so.

All diese Anti-Migrationsnarrative verschärfen das Klima für Migrant:innen hierzulande weiter, stärken die AfD und bringen uns als Gesellschaft keinen Zentimeter weiter. Dass diese Narrative an vorderster Front von einer vorgeblich sozialdemokratischen Partei kommen (namentlich von Scholz und Faeser), ist absolut beschämend. Ich bin auch enttäuscht von großen Teilen der deutschen Medienlandschaft, die das nicht klar benennt und sich stattdessen auf die Scheindebatten der Politik einlässt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich gibt es Probleme beim Thema Migration. Wenn in einer Kommune mit 400 Einwohner:innen eine Gemeinschaftsunterkunft für 500 Geflüchtete errichtet wird, sind Konflikte vorprogrammiert. Schuld daran sind aber nicht die Geflüchteten, sondern die Politiker:innen, die das entscheiden haben.

Nicht Migration ist unser Problem, sondern unser Umgang damit. Und wir tun gut daran, einen besseren Umgang zu finden, denn in Zukunft wird es definitiv mehr Zuwanderung geben, als jetzt – dafür wird vor allem der Klimawandel sorgen.

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