Wie in den letzten Jahren habe ich auch diesmal wieder einen musikalischer Jahresrückblick gemacht: Das sind die besten, seltsamsten, eindrücklichsten und persönlichsten Songs, die mich durch dieses Jahr begleitet haben, die mich berührt haben, die ich neu entdeckt habe, die mir hartnäckige Ohrwürmer beschert haben. Die Entstehung der Songs reicht von 1913 bis 2023, stilistisch gibt es alles von Jazzrock, Country und Artrock über Post-Bop, Metal, Slowcore und Psychedelic Folk bis hin zu Progressive Rock, Klassik, Softrock, Postrock und Minimal Music. Die Reihenfolge ist grob chronologisch gehalten.
„Autumn Leaves“ (Cannonball Adderley) 1958
Schon im letzten Jahr war ich ja im Winter in eine lange Jazzphase verfallen, wo ich fast nichts anderes gehört habe als Jazz. Tja, das war Anfang diesen Jahres auch wieder so – circa zwei Monate lang habe ich nur alte Post-Bop-, Modal Jazz- und Cool Jazz-Alben aus den 50er und 60er Jahren gehört. Ich bin immer wieder überrascht, wie man plötzlich einen Zugang zu bestimmter Musik findet, wenn man sie nur lange genug hört. So war es auch hier wieder: Den Klassiker „Autumn Leaves“ kannte ich zwar schon lange, aber irgendwie hat er erst jetzt richtig gezündet. Miles Davis Trompetenspiel ist einfach unnachahmlich: Dieser verlorene, einsame Ton macht das Stück noch melancholischer, als es ohnehin schon ist.
„Naima“ (John Coltrane) 1960
Ich habe mich lange schwergetan mit John Coltrane; obwohl „My Favourite Things“ eines meiner absoluten Lieblings-Jazzstücke ist, hatte ich zu vielen seiner Alben nie so richtig Zugang gefunden. Das hat sich in diesem Jahr geändert, und dass ist insbesondere dem großartigen Album „Giant Steps“ zu verdanken: Die Kompositionen hier sind etwas eingängiger als seine späteren Werke und dennoch auf unglaublich hohem Niveau. Sie alle scheinen über einem warmen, flächigen Sound zu schweben, der maßgeblich von Coltranes faszinierenden Saxophon-Modulationen zusammengehalten wird. Mir gefällt die ganze Atmosphäre des Albums und es fällt mir schwer, ein Stück herauszugreifen. Ich mag die schnellen Songs „Spiral“, „Syeeda’s Song Flute“ und „Mr. P.C.“ sehr, aber am meisten im Gedächtnis geblieben ist mir das meditative „Naima“: Herrlich versponnen, mal voll nachdenklichem Zweifel, dann wieder sanft und tröstend. Ich mag diese leisen und etwa sentimentalen Stücke von Coltrane sehr, die haben mich damals in dieser etwas melancholischen Winterstimmung sehr abgeholt.
„Moanin‘“ (Charles Mingus) 1960
Wenn man sich damit beschäftigt, welche Musiker:innen man im Jazz so gehört haben muss, stößt man relativ schnell auf den Namen Charles Mingus. Doch so wie ich bei Coltrane vor vielen Jahren zuerst versucht habe „My Love Supreme“ zu hören, und daran gescheitert bin, habe ich bei Mingus zuerst versucht, das sperrige „The Black Saint And The Sinner Lady“ zu hören, und bin ebenfalls daran gescheitert. Und so, wie ich bei Coltrane einen Zugang zu seiner Musik gefunden habe, indem ich seine etwas eingängigeren Alben gehört habe, war es auch mit Mingus, als ich seine populärsten Alben „Mingus Ah Um“ und „Blues And Roots“ gehört habe. Von letzterem stammt „Moanin‘“, dessen markantes Saxophon-Riff sich mir tagelang ins Ohr gebohrt hat. Die Stimmung ist aufgekratzt und düster gleichzeitig, so wie in einem schummerigen und etwas zwielichtigen Club, in dem die Party langsam ihren Höhepunkt erreicht.
„Uncle Albert / Admiral Halsey“ (Freddie Hubbard) 1971
Freddie Hubbard hat Anfang der 70er Jahre mit „Red Clay“, „Straight Life“ und „First Light“ drei sehr hörenswerte Fusion-Alben abgeliefert, wobei das letztere schon in Richtung Jazzfunk geht. Von diesem stammt auch das Stück „Uncle Albert / Admiral Halsey“, ein Cover eines Paul McCartnes-Songs, das hier sehr funky und mit einigen spannenden Rhythmuswechseln daherkommt. Die Besetzung (Herbie Hancock, George Benson, Ron Carter) ist vorzüglich, die Solos und Improvisationen ebenso.
„Escalator“ (Duster) 2022
Duster sind einfach so verdammt gut. Perfekte Musik für die Wintermonate zu Beginn des Jahres, in denen mich die zwei neuen Alben der Band begleitet hatten. Songs, die man wie eine warme Decke um sich breitet und am liebsten nie wieder ablegen möchte.
„Peg“ (Steely Dan) 1977
Als ich im Frühjahr irgendwie auch mal wieder was anderes als Jazz (und Duster) hören wollte, aber noch keine rechte Ahnung hatte, was, erschienen mir der Jazzrock von Steely Dan als guter Übergang zu wohin auch immer. Dabei stieß ich auf diesen Song, den ich eigentlich schon lange kenne, nämlich als Sample in dem De La Soul-Song „Eye Know“. Ich mochte diesen Hip Hop-Track und dieses Sample schon immer sehr und daher gefiel mir auch das Original sehr gut. Auch wenn mir Steely Dan immer etwas zu klinisch und glatt produziert sind, haben sie hier einen super Song mit einer fantastischen Melodie angeliefert, die mir einen wochenlangen Ohrwurm beschert hat.
„Danny“ (The Durutti Column) 1981
The Durutti Column sind für mich wahrscheinlich die größte musikalische Entdeckung dieses Jahres: Eine mir bis dato völlig unbekannte britische Artrockband aus den frühen 80er Jahren, deren Stilmix aus Dream Pop, minimalistischem Artrock und Post Punk mich extrem begeistert hat. Hab mir sofort fünf Alben gekauft und konnte gar nicht mehr genug bekommen. Leicht verregnet, trotzdem von heiterer Klarheit, mit teilweise traumhaften Melodien, die mir tagelang nicht aus dem Kopf gegangen sind. Dass die Songs aus den 80er Jahren kommen, merkt man ihnen oft kaum an, viele klingen erstaunlich modern.
„Otis“ (The Durutti Column) 1989
Ich will für meinen musikalischen Jahresrückblick ja eigentlich immer nur einen Song pro Artist auswählen, aber bei The Durutti Column fiel mir das wirklich schwer. Ich hätte am liebsten mindestens vier ausgewählt, aber beschränke mich hier mal als zweites auf „Otis“. Die meisten Songs des Ein-Mann-Projektes von Vini Reilly sind ja instrumental, aber auch seinem 1989er Album „Vini Reilly“ hat er viele Vocal-Samples in seine Stücke eingefügt. Das Ergebnis ist großartig und erinnert frappierend an die Art und Weise, wie Moby viele Jahre später Gesangssamples in seinem Erfolgsalbum „Play“ eingesetzt hat.
„Expired“ (Ryley Walker) 2018
Für Menschen wie mich, die immer an der Verbindung von Folk und Prog interessiert sind, ist Ryley Walker eine lohnende Entdeckung: Tolle Mischung aus klassischem Singer-Songwriter-Tum, Jazz, Postrock und Prog halt. Das ganze Album ist ziemlich gelungen.
„She Brings The Morning With Her“ (Justine) 1970
Tolle Entdeckung aus dem April: Justine! Total unbekannte Pychedelic Folk-Band von 1970 aus UK, haben (natürlich) nur ein Album gemacht. Einige Songs sind absolut traumhaft und auch ein bisschen angeproggt, mit schön viel Satzgesang.
„Scaramouche“ (John Phillips) 1969
John Phillips gehört zu meinen obskursten Entdeckungen dieses Jahres: Völlig unbekannter Singer-Songwriter aus Südafrika, der zudem noch das Problem hat, genauso zu heißen wie ein viel bekannterer Musiker, nämlich John Phillips von The Mamas And The Papas. Er hat nur ein einziges Album veröffentlicht, das schlicht mit „John“ betitelt ist – war gar nicht so einfach, etwas über ihn herauszufinden. Phillips soll als Weißer in Südafrika gelebt haben und transsexuell gewesen sein, von seinem Album wurden wohl nur 200 Kopien angefertigt, heute existiert nur noch eine Handvoll davon. Musikalisch erinnern die Songs sehr an Donovan: Nachdenklich verträumter Psychedelic Folk mit viel Fingerpicking und hübschen Einsprengseln von Flöten oder Sitars. Bemerkenswerte Randnotiz: Am Ende der zweiten Strophe des Songs „Permutation Child“ benutzt Phillips das Wort „Quing“, also ein Kofferwort aus „Queen“ und „King“. Bislang kannte ich das Wort nur von der feministischen Rapperin Sookee, die eines ihrer Alben so benannt hat.
„La ‚Baloune‘ De Varenkurtel Au Zythogala“ (Sloche) 1976
Ich habe in diesem Jahr leider nicht so viel Progressive Rock gehört, aber immerhin konnte ich eine wirklich schöne Entdeckung machen: Sloche! Wunderbare kanadische Jazzprog-Band, erinnern hier und da sogar ein bisschen an Gentle Giant. Die Songs sind voller Ideen und haben trotz aller Frickelei immer einen guten Groove. Haben leider nur zwei Alben gemacht, beide sind sehr empfehlenswert.
„BBG Drift“ (Nifty5) 2023
Nifty5, meine neue Lieblingsband aus Potsdam, die hier die Jazzrock-Flagge hochhalten. Mega smooth und auf den Punkt. Das ist mal knackig tanzbar wie Vulfpeck, mal voll flimmernder Melodien wie Weather Report, mal einfach nur ziemlich geil ohne jeden Band-Vergleich. Geschmeidig perlen Keyboard-Kaskaden über sanft treibende Drum-Extravaganzen, überraschende Breaks und Fills sorgen dafür, dass es nicht langweilig wird. Verfrickelte Prog-Momente gibt es ebenso wie infektiöse Tanz-Beats – Musik, bei der sich Kopf und Füße die Hände geben. Live sind sie absolut großartig.
„Blood Dries Darker“ (Woods) 2010
Eine schöne Band für den Sommer: Woods haben diese sympathische Lofi-Mischung aus Verschrobenheit und Unbeschwertheit, wie man sie von Psychedelic-Bands der späten 60er kennt. Bei Songs wie „Blood Dries Darker“ singe ich immer wieder gerne mit, ich liebe die leicht übersteuerte Kopfstimme von Jeremy Earl, die mich ein bisschen an Neil Young oder Wayne Coyne von den Flaming Lips erinnert.
„Forever“ (Fleetwood Mac) 1973
Habe im Sommer das etwas unbekanntere Schaffen von Fleetwood Mac Anfang der 70er für mich entdeckt (zwischen Greens Ausstieg und Buckinghams/Nicks Einstieg). Selbst in dieser Phase haben die alten Kokspopper immer wieder bewiesen, was für starke Songs sie schreiben konnten. Vor allem das schwebende „Forever“ hat es mir echt angetan: Gerade weil es anfangs mit einem reichlich banalen Reggae-Beat losdümpelt, kommt der Übergang in den Refrain umso überraschender.
„Silly Love Songs“ (Paul McCartney & Wings) 1976
Nachdem ich mich soviel mit Fleetwood Mac beschäftigt hatte, bekam ich Lust, mir andere Mittsiebziger Softrock-Bands anzuhören und habe dabei auch dem etwas unterbewerten Album „Wings At The Speed Of Sound“ von Paul McCartneys Wings eine Chance gegeben – und war sehr angetan! Die Platte birgt großartige Songs wie „Beware My Love“, „Let Em In“ und natürlich „Silly Love Songs“: Was für eine Produktion, was für ein warmer, souliger Sound, was für Melodien, was für ein vollendetes Songwriting! Pop in Perfektion.
„Two Rights Make One Wrong“ (Mogwai) 2001
Was für ein build up, was für ein Song! Manchmal reicht ein gutes Riff für neun Minuten völlig aus. Und dann sind auch noch Bläser und Banjos drin! Mogwai haben im Lauf ihrer Karriere ja viel Ausschuss produziert, aber das hier ist ein Glanzstück.
„Durstlöscher“ (01099) 2021
Ich habe dieses Jahr nur sehr wenig gegenwärtige Musik gehört, also wenig Hip Hop und Elektronisches. Hier ist eine kleine Ausnahme: Ja, es ist tatsächlich ein Song über das Getränk Durstlöscher, das in kleinen Tetrapacks mit Trinkhalm verkauft wird. Eine Freundin hat ihn im Urlaub im Auto angemacht, als wir gerade Abends durch die Stadt fuhren, und der Sound hat einfach mega gut in diese „Wir fahren nachts durch die City, es ist ein warmer Sommerabend und überall ist was los“-Stimmung gepasst. Ich mochte diese urbane und leicht unterkühlte Art, die der Song hat, ich hatte zu diesem Zeitpunkt lange nicht mehr solche Musik gehört und fand diese Autofahrt zusammen damit sehr belebend.
„Verliebt“ (Rainald Grebe) 2009
Rainald Grebe kenne ich zwar auch schon eine Weile, aber so richtig habe ich ihn erst dieses Jahr entdeckt. Seine absurd witzigen Songs sind voller genialer Beobachtungen mit nicht minder genialen Punchlines. Ein Freund spielte mir im Urlaub im Auto „Mittelaltermarkt“ vor und wir hätten vor Lachen fast den Mietwagen in die Leitplanke bugsiert. Es ist allerdings einer seiner ernsteren Songs, der bei mir am meisten hängengeblieben ist: „Verliebt“ ist ein kleines, völlig unprätentiöses Liebeslied, in dem sich selbst ein tristes Hotelzimmer, wo die Münchner Freiheit im Radio läuft, plötzlich wie der Himmel auf Erden anfühlt, einfach nur weil man eine SMS von einem ganz bestimmten Menschen bekommen hat. Großartig.
„Lazy Days“ (The Flying Burrito Brothers) 1970
Ich hatte irgendwann im Sommer so eine eigenartige Phase, wo ich unglaublich Lust auf alte Westernfilme hatte – keine Ahnung warum, aber etwa zwei Wochen lang hab ich jeden zweiten Tag einen Western geschaut. Weiter gings damit, dass ich meine alten Lucky-Luke-Comics wieder rausgekramt habe. Und weil ich also die ganze Zeit in dieser Wilder-Westen-Stimmung war, hatte ich plötzlich auch Lust, dazu passende Musik zu hören. Also begann ich mich so intensiv wie noch nie zuvor mit klassischer Country-Musik zu beschäftigen und hab auch die dann wochenlang gehört. Naja – irgendwann hörte auch diese Phase wieder auf und leider ist musikalisch nicht ganz so viel hängengeblieben. Reiner Country wird wohl nie so ganz meins; da gefallen mir doch die hippiesken Country-Rock-Alben von den Byrds, CSNY oder The Flying Burrito Brothers mehr, die Country mit anderen Stilen mixen. Von letzterer Band hatte ich im Sommer einen ziemlichen Ohrwurm – „Lazy Days“.
„Gaia“ (King Gizzard & The Lizard Wizard) 2022
King Gizzard & The Lizard Wizard veröffentlichen ja für meinen Geschmack ein bisschen zu viele Alben in zu kurzer Zeit, aber ab und zu sind dann doch mal ziemlich starke Songs dabei. Dazu gehört auch „Gaia“ von „Omnium Gatherum“: Ein absolutes Metal-Brett, bei dem die Riffs mit so stumpfsinniger Hingabe durch die Boxen geknüppelt werden, dass es einfach nur eine Freude ist.
„Said The Shovel“ (The Oh Sees) 2020
The Oh Sees (oder Osees, wie sie sich jetzt aktuell nennen) bleiben für mich ein stetiger Quell der Freude: Diese völlig undefinierbare Psychedelic-Garage-Prog-Band liefert ähnlich wie Motorpsycho Jahr für Jahr gute Alben ab und ich komme kaum hinterher, mich in alle reinzuhören. Auch „Protean Threat“ ist wieder sehr gelungen und dieser Track hat alle Zutaten, die ich an einem Oh Sees-Song schätze: Knackig, verschroben, ein bisschen unheimlich und voller Groove. Ein Song, der wie ein kleiner Schatz verführerisch im Dunkeln glüht, und man weiß nicht, ob man wirklich die Hand danach ausstrecken sollte…
„Music in 12 parts – part 1“ (Philip Glass) 1974
Was für ein hypnotischer Sog – ich habe schon lange nichts mehr von solcher Schönheit gehört wie dieses irisierende Mäandern von Flöten und Orgeln, die sich wie akustische Fraktale über immer größere Flächen ausbreiten. Dieses Stück ist mir wochenlang nicht mehr aus dem Kopf gegangen, ist dort gewachsen, hat mich komplett eingesponnen. Auslöser war der Film „Koyaanisqatsi“, den ich nach vielen Jahren endlich mal geschafft habe zu schauen: Der Soundtrack von Philip Glass ist faszinierend (vor allem in Kombination mit den Bildern), daher hatte ich mich anschließend etwas mehr mit Glass beschäftigt, den ich nie so viel gehört habe wie die anderen Minimal Music-Meister Steve Reich und John Adams. Ich finde beide immer noch besser, dennoch bin ich froh, nun auch zu Glass einen etwas besseren Zugang gefunden zu haben.
„Le sacre du printemps“ (Igor Strawinsky) 1913
„Le sacre du printemps“ ist eines dieser Klassik-Werke, die ich schon ewig kenne, aber das ich auch erst in diesem Jahr so richtig zu schätzen gelernt habe: Ende November hatte ich viel die französische Band Magma gehört und dessen stampfenden, „barbarischen“ Rhythmen brachten mich irgendwie auf Strawinsky. Die Heftigkeit dieser Ballettmusik hat mich total gepackt – die Mischung aus brutalen Rhythmen und ruhigeren Parts, die voller unheimlicher Vorahnungen sind, ist in dieser Intensität einzigartig. Ein düsterer Reigen aus einer archaischen Welt, die die Imagination an ungeahnte Orte führt. Kein Wunder, das John Williams sich für seinen Star Wars-Soundtrack auch hieraus bedient hat. Das Stück besteht aus mehreren Parts, ich habe es online aber nur als Ganzes gefunden; wer nicht soviel Zeit hat, höre exemplarisch nur die ersten sechs Minuten.