Wer hat Angst vor Progressive Rock?

Die Ekel-Reflexe der Mainstream-Musik-Kritik

Mich erstaunt (und erschreckt) immer wieder, welch massive und heftige Ablehnung Progressive Rock nach wie vor erfährt. Geht es um Prog, so beginnen Mainstream-Musik-Kritiker (zum Beispiel vom Rolling Stone Magazin) eine ernste und grimmige Miene aufzusetzen, als seien sie gezwungen, nun über ein unangenehmes aber zum Glück überwundenes Kapitel der Musikgeschichte reden zu müssen; etwa so, wie wenn Geschichtslehrer anfangen, vom Nationalsozialismus (einem ähnlichen Blackout) zu sprechen. Mit ernstem Blick schütteln sie den Kopf und runzeln verächtlich die Stirn – nicht einmal lachen können die Kritiker über dieses „Un-Genre“, hier verstehen sie keinen Spaß. Mit unverhohlener Abscheu befleißigen sich Kritiker wie Musiker schnell einer regelrechten Ausrottungsrhetorik a la: „Prog ist alles, was in der Musik schief gelaufen ist“ (Thom Yorke, Radiohead), „Zum Glück kam dann der Punk und hat diese ganze Seuche hinweggefegt“ (Andreas Müller, Radio1) oder, um den prominentesten Prog-Inqusitor zu nennen: „Emerson, Lake & Palmer haben Mitschuld an der schleichenden Fäulnis all dessen, was rein war in der Rockmusik“ (Lester Bangs). Diese Kritik wurde vor allem in den 70ern geäußert. Das Erstaunliche ist jedoch, dass man auch im Jahr 2011 mit schöner Regelmäßigkeit auf die Floskeln wie die drei oben Genannten stößt, obwohl die große Prog-Ära (also die 70er Jahre) lange vorbei ist und Prog heutzutage ein Nischendasein fristet.

Dennoch: Mit erbitterter Heftigkeit wird auf einem Genre herumgetrampelt, das längst am Boden liegt, längst vergangen ist, und allenfalls für ein paar Jahre (1970 – 1977) ein Massenpublikum besaß. Es ist ja nicht so, dass die ganze Welt damals Prog gehört hat, und im Radio lief man auch nicht unbedingt Gefahr, ständig von „The Gates Of Delirium“ (Yes) oder „A Plague Of Lighthouse-Keepers“ (Van der Graaf Generator) erschlagen zu werden. Insofern muss man sich fragen, warum sich so viele Menschen so ungemein gestört von dieser Musik fühlen? Prog ist insgesamt betrachtet ein eher introvertiertes und unaufdringliches Genre – jedenfalls keinesfalls so aufdringlich wie Punk oder Hardrock. Warum ruft diese Musik trotzdem solche Aggressionen hervor?

Nachdenken ist Bäh

Vor allem eines ist erstaunlich: Wenn Prog kritisiert wird, geht es fast ausschließlich um das Auftreten der Musiker, ihre (angebliche) Attitüde, ihre Texte, ihre Haltung, ihren Anspruch, ihre Bühnenshows, usw. … Kurz: Um lauter Dinge, die nichts mit der Musik zu tun haben. Über die Musik der Prog-Bands reden Kritiker eher ungern; meist, weil sie es nicht können. Lieber mokieren sie sich darüber, wie sich diese degenerierten Rock’n’Roll-Verräter arrogant über ihr Publikum erheben würden, um zu sagen: „Seht wie virtuos ich bin!“. Erstaunlich, dass es dieselben Kritiker kaum stört, wenn Guitar-Heros wie Van Halen oder Slash auf der Bühne herumposieren. Aber die dürfen das, da sie Proletarier und Angehörige der Arbeiterklasse sind; die einzige soziale Schicht, der es erlaubt ist, Rockmusik zu fabrizieren. Diese Ideologie, dass Rockmusik sich nicht vom Blues entfernen dürfe, trägt nebenbei einen fast rassistischen Unterton in sich, wie der Journalist Allan Moore in „Rock: The Primary Text“ anmerkt („natürliche“ schwarze Musik vs. „künstliche“ weiße Musik).

Das Prog-Klischee, dass sich Prog-Musiker „über ihr Publikum erhoben“ hätten, ist noch in anderer Hinsicht kurios, denn erstaunlicherweise wird die angebliche Arroganz gegen das Publikum nur von denen kritisiert, die gar nicht zu diesem Publikum zählen, aber dennoch der Meinung sind, für dieses Prog-Publikum sprechen zu müssen – ein Publikum, dem es nebenbei völlig egal ist, ob Yes‘ Keyboard-Wizard Rick Wakeman nun einen Glitzerumhang trägt oder nicht. A pro pro Glitzerumhang: Wenn KISS oder David Bowie sich kostümieren und Theaterdonner aus dem Hut zaubern, um eine große Show abzuliefern, erntet dies eher Jubel als Ablehnung. Wenn sich hingegen Peter Gabriel eine Blumenmaske aufsetzt und Rocktheater macht, nimmt man ihm das sofort übel – weil er sich dabei etwas gedacht hat und nicht nur ein Selbstdarsteller ist. Wo liegt hier eigentlich der Vorwurf? „Ihr habt uns zum Nachdenken gezwungen!“ ?

Damit beleidigst du meine Intelligenz

Wie gesagt: All dass hat mit der Musik selbst nichts zu tun. Dass nie über die Musik geredet wird, hat einen einfachen Grund: Die Kritiker, die sich so echauffieren, können Progressive Rock nicht verstehen. Das hat nichts mit Intellekt zu tun, sondern ist schlicht eine Frage des Geschmacks und der Geduld. Prog ist komplex, verschroben, ambitioniert, unkonventionell und braucht viel Aufmerksamkeit – es ist leicht, keinen Zugang zu Prog zu finden. Das jedoch will sich keiner der Kritiker eingestehen.

„Wie können Gentle Giant es wagen, so komplexe Songs zu spielen! Da ich diese Musik nicht verstehe, muss sie zwangsläufig schlecht sein; welche Erklärung könnte es sonst geben? Diese Band spielt doch nicht so kompliziert, weil sie etwas Neues ausdrücken will! Nein, ihr einziges Ziel besteht darin, sich größenwahnsinnig aufzuspielen, nur deshalb haben sie jahrelang hinterlistig im stillen Kämmerlein gelernt, wie man so virtuos spielt!“ Man verzeihe mir meinen Sarkasmus, aber so scheint es im Kopf mancher Mainstream-Kritiker zuzugehen, wenn sie diese ganzen Klischees absondern. Die Progger haben das Verbrechen begangen, nach mehr Ausdruck zu suchen, neue Klänge und Stile zu erforschen, die Grenzen der Rockmusik auszuloten und zu überschreiten – und damit haben sie die Intelligenz und die Geschmackssicherheit der Kritiker beleidigt.

Alles Fremde und Unverständliche ruft Angst und Abscheu hervor. Dies ist auch der Grund, warum bis heute so auf Prog herumgetrampelt wird, obwohl die 70er längst vorbei sind, denn noch immer können viele nicht begreifen, was damals zwischen 1970 und 1977 eigentlich mit der Musik „passiert“ ist. Außerdem kann die Negativfolie Prog so weiterhin als Gründungsmythos des Punk dienen; ein gemeinsamer Feind verbindet mehr als ein gemeinsamer Freund.

Sackgasse der Musikgeschichte?

Ein weiteres Argument, das versucht, die Bedeutung von Progressive Rock herunterzuspielen, besteht darin, dass Prog angeblich eine musikalische Sackgasse war, und kaum Einfluss auf die weitere Entwicklung der nachfolgenden Musikgeschichte gehabt hat. Zunächst muss bemerkt werden, dass sich diese Kritik erneut nicht auf die Musik selbst bezieht, sondern einen sekundären Aspekt für das Ganze geltend machen will. Ganz kann man dem Argument freilich nicht widersprechen: Selbstverständlich waren Yes nicht die Beatles, ihr Einfluss auf die Pop- und Rockmusik wird kaum vergleichbar sein. Die Sache ist nur: Es gibt noch andere Zweige der Musik außer Rock und Pop, etwa Jazz und Klassik. Ich bin überzeugt, dass Prog definitiv Einfluss gehabt hat, der aber zum einen nicht so stark sichtbar und zum anderen breiter gestreut ist. Und nebenbei: Wenn man es sich heutzutage als Musiker trauen könnte, offen zuzugeben, dass man von Yes und Genesis beeinflusst ist, würde man sich wundern, wer so alles eine Prog-Platte im Schrank stehen hat.

Abgesehen davon hatte Prog selbstverständlich sichtbaren Einfluss auf relevante Rockmusik: Besonders deutlich im Metal (Tool, Metallica, Iron Maiden, Progmetal, Powermetal) aber auch im Bereich Alternative und Artrock/-pop (Elbow, At The Drive-In, The Mars Volta, Sufjan Stevens, Incubus, Smashing Pumpkins, Muse, Arcade Fire, Dredg, …). Wenn man zusätzlich noch Bands wie Pink Floyd als Prog begreift, wird hinlänglich klar, welcher Einfluss von dieser Musik ausgegangen ist und noch immer ausgeht.

Die Stammeszugehörigkeit der Konterrevolutionäre

Das Grundproblem bei der ganzen Sache scheint die Lagerzugehörigkeit zu sein: Prog gehört zwar zum Rock, aber genauso zum Jazz, zur Klassik oder zur Avantgarde, ist aber nirgendwo wirklich beheimatet. Die Crux ist jedoch, dass Prog-Bands trotz allem in erster Linie in einem Rockkontext auftreten (auch wenn das die Musik nicht repräsentiert, da dieser Kontext dafür stilistisch nicht ausreicht). Mainstream-Kritiker nehmen Progger daher zunächst als Rockmusiker wahr, die ihre naturgegebenen Kompetenzen überschreiten. Alles was über Rock hinausgeht, wird von den Puristen sofort als unglaublich anmaßend empfunden.

Welch biederer Konservatismus derer, die sich Sex, Drugs & Rock’n’Roll auf die Fahnen geschrieben haben, und sich nun ärgern, dass die Rebellion, auf die sie schließlich ein Monopol haben, von diesen neunmalklugen Proggern einfach so untergraben wird! Das erinnert ein wenig an den – meist von politischen Systemen wie China zu Mao’s Zeiten verwendeten – Begriff „konterrevolutionär“, mit dem man die Dissidenten stigmatisierte. Gleichzeitig spricht das System von sich selbst permanent als „revolutionäre Partei“ oder „revolutionäre Funktionäre“, obwohl besagte Revolution bereits Jahrzehnte zurückliegt. Die Revolution währt ewig, daher ist eine erneute Revolution schlichtweg unmöglich. Wer ein linkes System von links kritisiert, erntet immer die heftigeren Reaktionen, als wenn man es von rechts kritisiert.

Auf Rockmusik bezogen: Wer das Gesetz der Gesetzlosigkeit bricht, ist ein Dekadent. Die Rebellion darf nicht intellektuell sein und in der Musik hat sie sich schon gar nicht abzuspielen. Vielmehr wird erwartet, dass das immer gleiche Rock-Riff, gespielt von den immer gleichen „neuen“ Bands, eine neue Revolution auslöst (bzw. die „revolutionäre Tradition“ fortführt) und ein Ausdruck von Freiheit und Auflehnung darstellt – genau wie damals! Als der Rock’n’Roll noch rein, echt und leicht verständlich war! Wer versucht sich weiterzuentwickeln, hat nicht kapiert, dass wir längst in Utopia angekommen sind und man Musik nicht besser machen kann, als sie es damals war. Wer es doch versucht, kann zwangsläufig nur Mist produzieren. Nicht das Neue, sondern die Attitüde ist das Maß der Dinge.

Mildernde Umstände für Psychedelic Rock

Besonders interessant ist in diesem Fall die Rezeption eines Genres, auf das viele der Vorwürfe, die dem Prog gemacht werden, ebenso zutreffen, welches allerdings in der Wahrnehmung der Kritik nicht nur wesentlich besser wegkommt, sondern dessen Revival vielerorten sogar freudig begrüßt wurde (was sich von Retro– oder Neoprog nicht unbedingt sagen lässt): Psychedelic Rock. Psychedelic war wie Prog ein Genre, das einem gewissen Zeitgeist geschuldet war und sich irgendwann überlebt hatte (was nichts an seiner Großartigkeit und Relevanz ändert). Nur zur Erinnerung: Ich rede hier erneut lediglich über sekundäre Aspekte eines Genres, welche eine Abwertung in keiner Weise rechtfertigen.

Viele der Punkte, die gerne dem Prog vorgeworfen werden, lassen sich im Psychedelic in noch viel stärkerer Ausprägung finden: Ausufernde Solos bspw. findet man im Psych nicht nur häufiger, sondern oft auch sehr viel länger und formloser als im Prog. Ein anderer Punkt ist die Abgehobenheit: Wenn Yes über indische Philosophie singen, nimmt man ihnen das sofort übel, aber wenn es ein Psych-Band macht, ist das anscheinend kein Problem. Während die oft exzentrischen und abgehobenen Texte der Progger aus intellektuellen Überlegungen entstanden sind, also immer aus einer kritischen Distanz, so waren sie im Psychedelic viel öfter das Ergebnis einer eher unkritischer Verinnerlichung von Drogen und fernöstlichen Heilslehren (welche die Psych-Rocker vermutlich sehr viel ernster genommen haben als die Progger ihre skurrilen Geschichten – siehe Steve Hillage).

Dennoch wird auf Psychedelic, das eigentlich ein sehr viel „infantilerer“ Trend war als Prog, heute nicht so stark herumgetrampelt wie auf Letzterem. Eine Erklärung dafür ist vielleicht, dass die Psych-Rocker sich ja zumindest zu zwei Dritteln zu der heiligen Dreifaltigkeit Sex, Drugs & Rock’n’Roll bekannten, nämlich den beiden ersteren Glaubenssätzen des Rock. Die Drogen sind es denn auch, die Psychedelic irgendwie cool und unangreifbar macht: Weil die Psychonauten Drogen nahmen und deshalb nicht zurechnungsfähig waren, bekommen sie von der Mainstream-Kritik „mildernde Umstände“ für ihre Solos und ihre Abgehobenheit. Ein weiterer mildernder Umstand ist die lässige Unprofessionalität des Psychedelic, das spontane Improvisieren, das Jammen – all das ist cool.

Demgegenüber wirken Prog-Bands natürlich suspekt: Keine Drogenexesse, keine Orgien, keine Skandale, dafür Disziplin, technisches Können, intellektuelle Texte. Anders als die Psych-Rocker machen Progger also auch recht komische Musik, sind dabei aber ständig bei vollem Bewusstsein – das ist nicht zu entschuldigen.

Aber es gibt einen kleinen Trost: Rebellion findet schon lange nicht mehr im Rock und Punk statt. Das hat früher mal funktioniert, aber heute haben die einstigen Rebellen das Sagen und Rockmusik wird heutzutage von so vielen Menschen geliebt, dass sie als gesellschaftlicher Brandsatz kaum noch taugt – gegen was will man da noch opponieren? Wenn man vor vierzig Jahren provozieren wollte, dann machte man Punk. Heute muss man schon Prog machen, damit das Establishment einen hasst.

Bild: Erik Wenk

2 Gedanken zu „Wer hat Angst vor Progressive Rock?

  1. Pingback: Artrock Affair 7 – Spaghetti-Prog | funkUP – Campusradio Potsdam

  2. Noch ein Beispiel für einen aktuellen Prog-Hater-Artikel, der in die alte Kerbe haut: https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/09/the-whitest-music-ever/534174/

    Das Kuriose an dem Artikel ist, dass Prog als „whitest music ever“ geschmäht wird und Punk dann (wörtlich) als „biologische Korrektur, als Heilung“ bezeichnet wird – weil Punk ja bekanntermaßen überhaupt keine „weiße“ Musik war sondern hauptsächlich von schwarzen Musikern dominiert wurde, die für ein schwarzes Publikum gespielt haben…

    Abgesehen davon muss man sich fragen, warum „whitest music ever“ eine Beleidigung ist? Ich sehe beim Autor bedenkliche, essenzialitische Vorstellungen von Kultur(en), die voneinander abgegrenzt werden sollen

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