Wie man per Sprache in die Zukunft reisen kann, warum wir neue Begriffe für namenslose Phänomene brauchen und wie man mit Wörtern Unsichtbares sichtbar macht
Ich hab da so ’ne Theorie: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Das Zitat stammt natürlich nicht von mir, sondern von Ludwig Wittgenstein, aber besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Und wie das nun mal so ist, wenn man irgendwo über kluge Zitate und treffende Aphorismen stolpert, man denkt sich: „Das muss ich mir unbedingt merken oder irgendwo aufschreiben!“ Immer wieder begegnen uns solche weisen, originellen und wichtigen Gedanken, die uns entscheidende Erkenntnisse und Einsichten über uns selbst und die Welt verraten. Oft genug bedarf es aber nicht einmal eines Satzes, sondern nur eines Wortes, um uns eine neue Erkenntnis oder – was noch entscheidender ist – einen neuen Namen für etwas geben, das wir zuvor nie ganz verstehen und benennen konnten. Wem schoss bei der Entdeckung eines solchen Wortes nicht schon einmal der Gedanke durch den Kopf: „Das habe ich schon so oft gedacht, aber mir fehlte immer ein Wort dafür!“
Genau so ging es mir in den vergangenen Jahren oft: Ich schnappte Begriffe in Fachliteratur, in den Medien, in Romanen, Podcasts oder Filmen auf (manchmal fielen mir auch selbst welche ein) und fand, dass man diese Begriffe eigentlich viel öfter verwenden müsste, weil sie kritische Dinge beim Namen nennen oder uns das Nachdenken über gewisse Dinge erst möglich machen; Wörter wie „Datenmärkte“, „Malestream“, „Zeithoheit“, „Mikrojustiz“ oder „Cool War“. Manche dieser Wörter sind kreative Neologismen, unbekannte Begriffe aus anderen Sprachen oder einfach vergessene oder selten gebrauchte Wörter.
Ein anderes solches Wort wurde immer wieder von meinem Philosophie-Professor Hans J. Petsche verwendet: „Wirklichkeitszugang“. Es bedeutet, dass uns alle möglichen Dinge – Gespräche, Filme, Drogen, philosophische Theorien, Spiele – eine neue Möglichkeit geben können, auf unsere Wirklichkeit zuzugreifen, sie auf eine bislang ungeahnte Weise zu verstehen und mit ihr umzugehen (simpelstes Beispiel: Das Erlernen von Französisch ist ein Wirklichkeitszugang, weil er es mir ermöglicht, viele französischsprachige Länder zu bereisen, mit Franzosen zu kommunizieren, französische Bücher zu lesen, usw. …). Ich erwähne den Begriff auch deshalb, weil es genau das beschreibt, was mir an diesen Wörtern so wichtig ist: Jedes von ihnen stellt einen kleinen Wirklichkeitszugang dar, jedes von ihnen kann ein Werkzeug sein, das man in Debatten und Argumentationen einsetzen kann.
Ich bezeichne diese Wörter als „Mehrsprech“. Nach dem Vorbild des Blogs „Neusprech.org“, der Begriffe aus der Politikersprache kritisiert, habe ich beschlossen, Mehrsprech-Wörter zu sammeln oder vielleicht auch selbst zu erfinden. Ich werde sie künftig auf Elfenbeinbungalow.de unter der Menü-Kategorie „Mehrsprech“ in unregelmäßigen Abständen vorstellen und ihre Herkunft, Bedeutung und Verwendungsmöglichkeiten erklären.
Ich begreife Mehrsprech als Gegenmodell zum Orwellschen Neusprech (siehe dazu mein Essay über Neusprech), dessen Ziel es ist, Sprache zu simplifizieren, Wörter zu vernichten und den Sprachschatz immer mehr zu verkleinern, so dass man über Konzepte wie „Freiheit“, „Revolution“ oder „Machtmissbrauch“ gar nicht mehr nachdenken kann, weil es schlicht keine Wörter mehr dafür gibt. Mehrsprech hingegen soll eine Vielfalt an Begriffen, an Sinn, an Sprache, an Denken, an Wirklichkeitszugängen generieren, damit wir über Dinge sprechen können, für die es noch keinen Namen gibt und vielleicht sogar Namen für Dinge finden, die es erst in Zukunft geben wird. Mehrsprech-Wörter sind Spracherfindungen, die unsere Realität verständlicher und greifbarer machen, Unsichtbares sichtbar machen, Zusammenhänge konkretisieren und auf den Punkt bringen.
Heilung durch Sprache und linguistische Prognostik
Es gibt mehrere Gründe dafür, warum ich auf dieses Projekt gekommen bin. Neben dem erwähnten Neusprech-Blog diente mir auch die Psychoanalyse als Vorbild: Psychoanalyse funktioniert im Wesentlichen durch Gespräche zwischen Therapeut und Patient. Entscheidend bei jeder Therapie ist dabei das Herausarbeiten der jeweiligen Ängste und Probleme, welche vom Patienten verbalisiert, also sprachlich benannt werden müssen. Indem man einen Namen für seine Ängste findet, werden sie greifbar und man kann besser mit ihnen umgehen. Psychoanalyse kann also auch als Heilung durch Sprache bezeichnet werden.
Weiterhin bin ich ein Anhänger der Sapir-Whorf-Hypothese, laut der die Sprache das Denken formt: Nach dieser Hypothese beeinflussen alle Wörter und die Sprache, in der wir sie lernen, unserer Denken und so letztlich unsere Haltung und unsere Handlungen. Indem wir neue Wörter erfinden, können wir also unser Bewusstsein fragmentieren.
Wie das gehen kann, zeigt Stanislaw Lems Buch „Der futurologische Kongress“ (Suhrkamp, 1994), das eine weitere Inspirationsquelle für Mehrsprech war. Quasi im Vorbeigehen erfindet Lem hier nicht nur die chemische Politik („Psychemie“) sondern auch die „sprachseitige Zukunftsvorhersage“ bzw. die „linguistische Prognostik“: Dabei handelt es sich sozusagen um die Erforschung der Zukunft anhand der Umformungsmöglichkeiten der Sprache – wir können zwar nicht in die Zukunft schauen, aber schon deren Wörter benutzen. Genauer gesagt: Wir erfinden die Zukunft erst durch neue Wörter.
Wie das funktioniert, zeigen ein paar Ausschnitte aus dem Buch: Die Hauptfigur Ijon Tichy trifft auf den mit ihm befreundeten Professor Trottelreiner, welcher sich seit längerem mit der linguistischen Prognostik beschäftigt. Der Professor bittet Tichy, ihm irgendein Wort zu nennen, woraufhin dieser sich für „Bein“ entscheidet. Trottelreiner assoziiert drauflos:
» „Beinler. Beinmal, allenfalls Beinmaleins. Beinigel. Beinzelgänger. Beinzeln und sich beinigen. […]“
„Was heißt denn das alles? Diese Wörter haben doch gar keinen Sinn?“
„Noch nicht. Aber sie werden einen haben.“ « (S. 104)
Dadurch, dass man sich vorstellt, was diese Wörter bezeichnen könnten, eröffnen sich plötzlich gänzlich neue Möglichkeiten des Denkens. Tichy liefert Trottelreiner noch andere Wörter, unter anderem „Mist“. Der Professor assoziiert daraus „Allmist“. Wieder fragt Tichy, was das zu bedeuten habe, Trottelreiner antwortet:
» „’Allmist’, das besagt jetzt noch nichts, aber der künftige Sinn lässt sich erahnen! Sehen sie, es geht da um eine neue psychozoische Theorie. Nicht zu verachten! Eine, die behauptet, die Sterne seien künstlicher Herkunft.“
„Woher denn diese Idee?“
„Aus dem Wort ‚Allmist’. Es entwirft, das heißt, es suggeriert folgendes Bild: im Laufe von Äonen füllte sich der Kosmos mit Mist, mit Zivilisationsabfällen, womit nichts anzufangen war. Sie behinderten die astronomische Forschung und die Raumfahrt. Deshalb errichtete man riesige Feuerungsanlagen, nicht wahr, um diesen Müll zu verbrennen. Die müssen so große Masse haben, so dass sie von selbst den Mist anziehen. Der leere Weltraum wird allmählich gereinigt. Und so, mein Herr, ergeben sich die Sterne, eben diese Feuerstellen, und die Dunkelwolken – nämlich der noch nicht beseitigte Mist.“
„Wie? meinen sie das ernst? Sie halten das für möglich? Der Kosmos – ein einziges Brandopfer von ‚Mist? Aber Herr Professor!“
„Es handelt sich nicht um meinen Glauben oder Unglauben, Tichy. Wir haben ganz einfach mit Hilfe der linguistisch orientierten Futorologue eine neue Spielart der Kosmogonie geschaffen, eine reine Möglichkeit für spätere Geschlechter.“ « (S. 105 f)
Salopp gesagt lässt sich die Methode der sprachseitigen Zukunftsvorhersage mit „man denkt sich ein neues Wort aus, und überlegt dann, was es bezeichnen könnte“ umschreiben. Durch das Spiel mit der Sprache können wir unsere Wirklichkeit neu erfinden und vielleicht sogar aus Fiktionen reale Veränderungen machen bzw. darauf hinarbeiten, weil wir zumindest eine Vorstellung davon haben; ähnlich wie Techniken aus der Science Fiction (z.B. Roboter) der Wissenschaft als Vorbild für die Neuentwicklung von Technik dient.
„Karte machen“ – Mit Sprache die Wirklichkeit neu aufschreiben
Die kreative Macht von Mehrsprech lässt sich wunderbar an einem weiteren schönen Begriff erläutern: „Karte machen“. Karte machen ist ein von dem französischen Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Felix Guattari erfundener Terminus, der so viel bedeutet wie „kreative Neukonstruktion von Wirklichkeit“. Auf den ersten Blick mag man denken, es von einem Ort könne es nur eine Landkarte geben, weil der Ort ja nur eine Geographie hat. Aber jeder weiß aus Erfahrung, dass das nicht stimmt: Man kann von ein und dem selben Ort etliche Karten machen (politische, geographische, ethnische Karten, Karten, die die Verteilung von Bodenschätzen, Elektromärkten, Sprachfamilien, Fahrradwegen und Religionen anzeigen). Man kann die verschiedensten Raster darüber legen, wie ein Kind, das eine völlig subjektive Karte von seinem Ferienort anfertigt; plötzlich erkennt man, dass es da Wirklichkeiten gibt, die man zuvor noch nicht gesehen hat. Mehrsprech ist „Karte machen“.
Schließlich und endlich verstehe ich Mehrsprech als Ergänzung des Neusprech-Blogs, der in erster Linie manipulative Begriffe aus Politik und Wirtschaft vorstellt. Natürlich ist es wichtig, Unworte zu brandmarken, aber was mir dabei fehlt, ist die positive Seite von Sprachschöpfungen. Ich finde, das man dem Diskurs der Mächtigen eigene Diskurse entgegensetzen muss, auch in Form eigener Wörter, wie dies zum Beispiel im Fall des „Wahlcomputers“ geschehen ist: Anstatt von „Wahlmaschinen“ zu sprechen, führte der Chaos Computer Club Anfang der 2000er den Gegenbegriff „Wahlcomputer“ in die Diskussion ein, um damit klar zu machen, dass es sich hier nicht um simple Maschinen handelt, sondern um Computer, die gehackt werden und Fehler machen können. 2009 wurden Wahlcomputer in Deutschland als verfassungswidrig erklärt und von Wahlmaschinen spricht heute kein Mensch mehr.
Es ist meine Hoffnung, dass die Leser dieses Blogs vielleicht den einen oder anderen der Mehrsprech-Begriffe ähnlich erfolgreich verwenden werden können.
Zum Schluss noch zwei Empfehlungen: Die Webseite „Wortwarte“ ist immer wieder für ein paar schöne Mehrsprech-Begriffe gut, auch wenn ein Großteil der dort gesammelten Wörter, die aus Online-Pressetexten herausgefiltert werden, meist journalistische Sprachkonstruktionen sind, die nur rein illustrativ funktionieren und für eine Weiterverwendung als Denkwerkzeug selten taugen. Dann möchte ich noch den (derzeit leider inaktiven) Blog „Lexikon der … fehlenden Worte“ erwähnen: Dessen Autor hat es sich zur Aufgabe gemacht, Lücken in unserer Sprache aufzuspüren, so gibt es im Deutschen bspw. keinen Plural von „Publikum“ oder kein Gegenteil von „Lieblings-…“. Auch wenn der Macher des Blogs nichts davon hält, für solche Lücken neue Begriffe zu finden, finde ich seinen Ansatz grundsätzlich gut; ich selbst habe ja schon in zwei anderen Blogposts beklagt, dass es für Wörter wie „Raubkopieren“ keine vernünftige Alternative gibt (Link zum Artikel), oder dass man ehrenamtliche Tätigkeit lieber als „Bürgerarbeit“ bezeichnen sollte (Link zum Artikel).
Wer von euch auch schon solche Lücken und Leerstellen unserer Sprache bemerkt hat oder interessante Mehrsprech-Worte für mich hat, die viel öfter verwendet werden sollten, der möge mir bitte einen Kommentar oder eine Mail an erik.wenk@gmx.de schicken.
Comic: Erik Wenk
In dem Buch „Erfolgsgeheimnis Kreativität“ von Michael Michalko wird darauf hingewiesen dass der Physiker Niels Bohr sich neue Schaubilder erschuf
um bei der Beschreibung atomarer Vorgänge fehlende Begriffe auszugleichen.
In einem sowjetischen Science-Fiction-Film wurde die Besatzung eines Raumschiffs manipuliert und um Erinnerungen seit ihrer Ankunft auf einem Planeten beraubt. Als sie den Computer anwiesen die Worte zu suchen die seit der Landung nicht mehr in ihrem Sprachschatz benutzt wurden kamen sie der Mainipulation auf die Spur.
In diesem Zusammenhang passt der Hinweis sehr gut dass die Kreativitätstechnik „Semantische Intuition“ zwei Worte gegenüberstellt um aus deren Deutung neue Ideen oder Lösungsansätze zu finden. Diese Vorgehensweise ist nicht nur auf Produktinnovationen beschränkt.
Hallo Wiedemar,
danke für diese interessanten Hinweise, von allen drei Sachen habe ich noch nie was gehört! Das mit Bohr kann ich mir sehr gut vorstellen, schließlich gibt insbesondere in der Quantenphysik immer wieder Effekte, die sich eigentlich nur becshreiben lassen, wenn man irgendwelche Arten von noch unentdeckten Teilchen annimmt, auch wenn man dadurch schnell in den Verdacht gerät, besagte Teilchen einfach nur zu erfinden.
Wie heißt denn dieser sowjetische SF-Film?
Die Semantische Intuition finde ich besonders spannend, das sollte man in der Tat auf andere Bereiche wie politische Theorie oder Philosophie ausweiten.
Sorry, dass ich jetzt erst geantwortet habe, war längere Zeit nicht im Dashboard von WordPress und hab den Kommentar übersehen.
Hallo Erik,
es könnte der Fortsetzungsfilm „Roboter im Sternbild Kassiopeia“ gewesen sein, aber ich bin mit keineswegs sicher da es schon viele Jahre her ist.
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