Es ist wieder soweit: Wie in den letzten Jahren habe ich einen musikalischen Jahresrückblick erstellt und ihn in einen digitalen Adventskalender gegossen. Das sind die Songs, die mich in diesem Jahr am meisten bewegt, beglückt, beschäftigt, berührt, begeistert und begleitet haben. Das stilistische Spektrum reicht von Dream Pop, Progressive Rock, Indie Rock, Singer-Songwriter, Jazz, Gothic Country, Filmmusik, Samba-Pop, Postrock, Psychedelic Rock, Soul, Artrock, Folk, Zeuhl, Hip Hop, Electro und Artpop. Viel Spaß :)
„Milestones“ (Miles Davis) 1958
Wie in den letzten zwei Wintern habe ich zu Beginn des Jahres viel Jazz gehört. Miles Davis ist dabei eine Konstante, auch weil sein Werk so umfangreich ist, dass man eh Jahre braucht, bis man damit fertig wird. Erstaunlicherweise habe ich diesen Hit erst sehr spät entdeckt, obwohl einen das sanft schwingende Wechselspiel aus Percussion und Trompete schon nach wenigen Takten total in den Bann zieht. Eines von Davis coolsten Stücken – und davon gibt es eine Menge.
„Mythological Beauty“ (Big Thief) 2017
Vielleicht die größte musikalische Entdeckung, die ich 2024 gemacht habe: Big Thief gehört zu diesen Bands, in die ich in den letzten Jahren immer wieder mal reingehört hatte, ohne dass es Klick gemacht hätte. Aber wie so oft erwischt es einen, wenn man in der richtigen Stimmung ist – und das waren in diesem Fall die kühlen, grauen, leeren Wochen im Februar und März, durch die mich der stille, laute, funkelnde, intime und lebenskluge Indiefolk von Big Thief begleitet hat. Dies war die warme Jacke, die ich so dringend in dieser Zeit brauchte, und ich habe sie lange Zeit nicht mehr ausgezogen.
Ich habe mich direkt durch ihre gesamte Diskographie gehört und war sehr enttäuscht, dass sie bislang nur fünf Alben rausgebracht haben. Ihr letztes Album ist für mich ein reines Wunder – Musik, die mich verstummen lässt und lange im Herzen bleibt.
„Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ (Big Thief) 2022
Es war unmöglich, nur einen Song von Big Thief für den Jahresrückblick auszuwählen. Dieser hier ging mir lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf: Ein fließender Gitarrenakkord, eine Steelguitar im Hintergrund und der bestrickende Gesang von Adrianne Lenker – mehr braucht es nicht, um etwas absolut Magisches zu erschaffen. Ein Song wie eine wiedergefundene Kindheitserinnerung, die man vor langer Zeit vergessen hatte.
„Harms Way“ (16 Horsepower) 1996
Nachdem ich im Februar und März fast nur Big Thief in der Playlist hatte, musste ich irgendwann mal wieder etwas anders hören – aber akustisch sollte es bleiben. Bei dieser Gelegenheit habe ich den Gothic Country von 16 Horsepower noch einmal ganz neu für mich entdeckt – vermutlich die einzige christliche Band, die wirklich gut finde.
Frontmann David Eugene Edwards ist in einer sehr religiösen Gemeinde aufgewachsen und hat als Kind oft seinen Großvater begleitet, der als Wanderprediger durch die USA zog – eine prägende Erfahrung, die sich in der Musik von 16 Horsepower deutlich niederschlägt. Die Songs handeln von Schuld und Sühne, Gut und Böse, Sünde und Vergebung – Edwards Gesang transportiert dies auf unheimliche Weise, er ist Priester, Sünder, Gläubiger und Verdammter zugleich. Das gilt auch für „Harms Way“ – ich weiß nicht, ob ich je ein unheilvolleres Akkordeon in einem Song gehört habe.
„Sheshamani“ (Cymande) 1974
In diesem Jahr hatte ich die Möglichkeit, eine meiner absoluten Lieblings-Funk/Soul-Bands live zu sehen: Cymande. Eigentlich dachte ich, es gibt sie gar nicht mehr; sie hatten Anfang der 70er drei großartige Alben rausgebracht und waren danach in der Versenkung verschwunden. Instrumental sind sie brillant, Cymandes Sound geht weit über Funk und Soul hinaus und vereint ebenso Psychedelic und Folk in ihren Klangkosmos.
„Sheshamani“ ist eher eines ihrer ungewöhnlicheren Stücke, es besteht nur aus Percussion und Gesang – völlig ausreichend, um mir einen tagelangen Ohrwurm zu bescheren.
„Gentle On My Mind“ (Glen Campbell) 1967
Ja, ich bin empfänglich für Kitsch – wenn er gut gemacht ist. So wie im Falle dieses leichtfüßigen Country-Evergreens, der für mich immer ein wenig klingt wie ein unendlicher Song: Er könnte einfach immer weiter und weiter gehen, und es würde mich nicht stören. Perfekte Autofahrmusik für einen Ausflug aufs Land, man kann den Sommer förmlich riechen.
„Island“ (801) 1977
Die kurzlebige Artrock-Band 801 wurde von den ehemaligen Roxy Music-Musikern Phil Manzanera und Brian Eno gegründet und hielt nur ein Album langt. Proggig, jazzig, gefällig, instrumental auf höchstem Niveau, aber auch mit ein paar Füllern. Für „Island“ gilt das nicht: Ein Stück, das sanft und majestätisch wie eine Wolke in der Abendsonne dahingleitet, sich in den Himmel auftürmt und irgendwann Richtung Horizont entschwindet – traumhaft.
„Abstract Of Expression“ (The Durutti Column) 1996
Ich bin weiter in die Diskographie von The Durutti Column eingetaucht und ich wurde nicht enttäuscht. Auch das Album „Fidelity“ liefert glänzenden Artpop und kein Song hat mir dieses Jahr einen so großen Ohrwurm beschert wie „Abstract Of Expression“: Das minimalistische Drumpattern hat mich bereits nach wenigen Sekunden süchtig gemacht, Vini Reillys unglaublich gut gelaunten Gitarrenlicks fliegen einfach nur so dahin und die unkonventionellen Vocalsamples sind die Kirsche auf der Torte. Erfrischend, luftig, tanzbar – der Soundtrack meines Frühlings.
„Benadryl Submarine“ (Lil Ugly Mane) 2021
Zusammen mit Big Thief war Lil Ugly Mane für mich die größte musikalische Entdeckung in diesem Jahr. Lil Ugly Mane als einfach nur als Hip Hopper zu beschreiben, wäre fahrlässig; spätestens seit seinem letzten Album „Volcanic Bird Enemy and the Voiced Concern“ entzieht er sich jeder Kategorisierung – ein schwindelerregendes Zusammentreffen von Indie Rock, Underground Hip Hop, Psychedelia, Singer-Songwriter, Dream Pop, Trip Hop, Electro, Shoegaze, obskuren Samples, und und und… Eigentlich kann es gar nicht funktionieren, aber genau das tut es. Lil Ugly Mane erreicht einen Level an Eklektizismus und Verspieltheit, wie ihn sonst nur noch die Avalanches besitzen. Es gibt so viele schöne, grüblerische, elektrisierende, melancholische, eigenartige und euphorische Momente auf „Volcanic Bird Enemy and the Voiced Concern“, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Mein Lieblingsalbum dieses Jahres.
„Orange Over“ (Lil Ugly Mane) 2023
Lil Ugly Mane hat sich im letzten Jahr noch weiter von seinen Hip Hop-Wurzeln entfernt und eine Reihe großartiger Indietronic-Singles herausgebracht. Das melancholische „Orange Over“ ist mir davon besonders im Gedächtnis geblieben: Ein kleiner Song mit großem Hallraum, der akustisch-intim startet und dann den Sternenhimmel aufreißt.
„Contempt – Theme de Camille“ (George Delerue) 1963
Filmmusik bleibt mir nach dem Abspann oft nicht im Gedächtnis, doch hier hatte ich einen Ohrwurm. Der Godard-Film „Die Verachtung“ mit Brigitte Bardot handelt vom Auseinanderbrechen einer Beziehung – George Delerue untermalt dies mit einem herzzerreißenden Thema, das in weniger als drei Minuten zwischen elegisch, verzweifelt, schwärmerisch und bittersüß hin- und herpendelt wie eine Tschaikowsky-Symphonie. Man wünscht sich, dass es ewig so weitergeht.
„This Unfolds“ (Four Tet) 2017
Ich habe lange keinen Electro mehr gehört, aber mit Beginn der warmen Jahreszeit kehrte mein Hunger auf elektronische Musik schlagartig zurück. Four Tet habe ich dabei mit Abstand am meisten gehört, insbesondere das Album „There Is Love In You“: Entspannt treibende Beats, die sich ganz ohne Eile über sechs, sieben, acht Minuten entfalten, umkreisen, übereinanderlegen und verästeln wie ein Wellenmuster. Trotz aller Leichtigkeit schaffen es Four Tet, nie beliebig zu klingen, sondern stets einen unverwechselbaren Sound zu bewahren, der viele meiner heißen Sommertage untermalt hat.
„Another World“ (Chemical Brothers) 2010
Keine sommerliche Electro-Phase ist komplett ohne die Chemical Brothers: Ihre wichtigsten Alben kenne ich zwar schon alle, aber umso mehr habe ich mich gefreut, dass „Further“ bislang unter meinem Radar geflogen zu sein scheint. So konnte ich eine Menge (für mich neue) Tracks entdecken, von denen mich „Another World“ am meisten umgehauen hat: Ein funkelndes Bombast-Brett, das wie eine gleißende Rakete ins Weltall abzuheben scheint.
„Hendrix With Ko“ (Caribou) 2003
Es fällt mir wirklich schwer, die Musik von Caribou zu beschreiben; Posaunen-Fanfaren, Morricone-Gitarren, Electro-Beats, Psychedelic Pop, Indietronic, EDM, Folk, Glitch-Pop – das Ein-Mann-Projekt von Daniel Victor Snaith mischt derart viele Stile und Genres ineinander, dass es eine wahre Freude ist. Ständig klingelt, pocht, zirpt, hallt oder flötet irgendwo etwas – es ist ein Wunder, dass diese Musik nicht ständig auseinanderfliegt. Es macht Sinn, das Album am Stück zu hören; gerade die stilistischen Sprünge zwischen den Songs machen den Charme von Caribou aus.
„Oba, Lá Vem Ela“ (Jorge Ben Jor) 1970
Ich habe mich im Sommer diesen Jahres verstärkt mit brasilianischer Musik der 60er und 70er beschäftigt, insbesondere mit dem Werk von Jorge Ben Jor. Das sinnliche „Oba, Lá Vem Ela“ hat sich mir besonders eingebrannt: Die Mischung aus Samba, Folk und Soul ist einfach unwiderstehlich, das Schmachten und Schwelgen des Orchesters lässt mich jedes Mal dahinschmelzen.
„Heaven is a Bedroom“ (TV Girl) 2016
Musik für die guten Momente in diesem Jahr: TV Girl machen genau die Art von neonfarbenen Indie-Elektro-Dream-Pop, den ich im Sommer hören wollte. Das euphorische „Heaven is a Bedroom“ war eines der Stücke, das mich am meisten gecatcht hat – hymnisch und rhythmisch wie ein Peter Gabriel-Song.
„Someone Else is in Control“ (The Mystery Lights) 2019
Eigentlich ist es ja albern, wenn Bands von heute versuchen, exakt so zu klingen, wie in den 60er Jahren – aber wenn es so gut gemacht ist, wie bei The Mystery Lights, dann ist es mir irgendwie egal. Hypnotisches Intro, knackige Gitarren-Salven und eine melodramatische Orgel, die durch den bunten Dunst hindurchwabert – fertig ist ein perfektes Psychedelic-Rock-Brett in unter zwei Minuten.
„Miss Lucifer“ (Primal Scream) 2002
Immer, wenn es so richtig Sommer wird und ich Lust auf Open Airs und Festivals bekomme, wandert früher oder später Primal Scream in meine Playlist. Vor allem das Album „Evil Heat“ habe ich im Juli rauf und runter gehört, eine hochenergetische Platte voller Neo-Psychedelic, Krautrock, Indietronic, Blues, Electro und gekonnt hingerotztem Garagerock im Breitwandformat.
Es gibt viele geile Tracks auf „Evil Heat“, aber wenn ihr nur einen hören wollt, dann den hier: „Miss Lucifer“ ist eine Maschine von einem Song – erwischt mich jedesmal wie ein Sechszehn-Tonner auf 180.
„Rocky Mountain Raga“ (Robbie Basho) 1978
Musik aus der Kategorie „Man denkt immer, man kennt schon alles, und dann kommt sowas…“: Robbie Basho ist ein weitgehend vergessener US-amerikanischer Akustik-Gitarrist, der auf faszinierende Weise westliche und indischen Tonleitern und Modi miteinander vermischt und dabei einen regelrechten Wald aus Klängen erschafft. Bashos zwölfsaitige Gitarre schwirrt und schaudert, perlt und bebt, klagt und jubelt. Und über all dem schwebt Bashos beschwörende Baritonstimme, die den Flüssen, den Bergen, den Wäldern und den Himmeln Hymnen singt. Das ganze Album „Visions Of The Country“ ist großartig und war für mich die perfekte Musik für den Herbstbeginn. Es ist selten, dass ich das Bedürfnis habe, akustische Musik sehr laut zu hören – bei „Rock Mountain Raga“ ist dies der Fall.
„Bending Hectic“ (The Smile) 2024
Nachdem Radiohead ja nun Geschichte zu sein scheinen, bleibt Fans von Thom Yorke und Co. nur die Nachfolgeband The Smile, die zwar alle wichtigen Trademarks von Radiohead in sich vereint, aber nie deren Qualität erreicht hat. Dennoch habe ich das zweite The Smile-Album ganz gerne gehört; für neurotisch-traurigen Artrock bin ich einfach immer zu haben, vor allem wenn Thom Yorke dabei singt.
Das sanft verspulte „Bending Hectic“ hat sich immer wieder wie ein langsam dahinfließendes Musikbett unter meine melancholischen Herbstgedanken geschmiegt: Mäandernd, nachsichtig und voller Wärme.
„Bosses Hang“ (Godspeed You Black Emperor) 2017
Obwohl Godspeed You Black Emperor zu meinen Lieblingsbands gehören, hatte ich sie in den letzten Jahren nur selten gehört. Dies änderte sich im Oktober 2024, unter anderem weil sie ein neues Album herausgebracht haben und weil ich sie seit vielen Jahren wieder einmal live gesehen habe. Es war definitiv das beste Konzert, bei dem ich dieses Jahr war: Der Live-Sound von GYBE ist absolut gewaltig und ich bereue nicht, dass ich meine Ohrstöpsel nicht reingemacht habe. Wenn sich die Riffs über zehn Minuten zu einem majestätischen Klangplateau auftürmen, um sich schließlich in einem ekstatischen Crescendo aufzulösen, dann lässt mich das immer wieder sprachlos zurück.
Auch wenn ihre aktuellen Arbeiten nicht an ihre ersten drei Alben heranreichen, hat es mir doch „Bosses Hang“ von 2017 sehr angetan. Das treibende Finale hat alles, was ich an GYBE liebe: Euphorie, Raserei, Melancholie, Schönheit, Katharsis.
„Booldemug“ (Weidorje) 1978
„Weidorje“ – klingt weird, ist es auch. Hinter dem eigenartigen Namen verbirgt sich eine fantastische Jazz-Prog-Rock-Band aus Frankreich, die aus dem Dunstkreis der Zeuhl-Legende Magma stammt und sehr sehr viel Spaß macht. Leider gibt es nur eine Platte von ihnen, auf der dafür aber alle typischen Zeuhl-Zutaten mustergültig vereint sind: Stampfende Rhythmen, wilde Saxophone, grollende Bässe, opernhafte Chöre. Eines der besten Magma-Alben das Magma nie gemacht haben.
„Dagon“ (Eskaton) 1980
Herrlich abgedrehter Progressive-Rock aus Frankreich, der ganz in der Zeuhl-Tradition von Magma steht. Treibende Bässe, wilde Rhythmuswechsel, exaltierter Gesang, blubbernde Synthies – was will man mehr? „Dagon“ hat ein etwas langatmiges Intro, dreht aber dafür ab der Mitte richtig auf und verwandelt sich in ein echtes Groove-Monster.
„It Must Be Love“ (Labi Siffre) 1972
Was für ein fantastisches Album! Ich hatte bisher noch nie etwas von Labi Siffre gehört und war sehr verwundert, wie dieses Meisterwerk so lange an mir vorbeigehen konnte. Mühelos wechselt Siffre von Folk zu Pop, von Soul zu Softrock und wieder zurück. Das Songwriting ist großartig und die Produktion lässt den leisen Momenten den nötigen Raum, dreht aber genau an den richtigen Stellen auf.
Es fiel mir sehr schwer, einen Song auszuwählen, ich habe mich für den wahrscheinlich bekanntesten entschieden (es hätten aber ebenso „My Song“, „Blue Lady“ oder der Titeltrack werden können).