Kurz-Definition: Heterotopien sind im Gegensatz zu Utopien bewusst unperfekte Gesellschaftsentwürfe, die nicht auf eine Patentlösung ausgerichtet sind, sondern eine Vielfalt an Lösungen parallel existieren lässt.
Der Begriff „Utopie“ hat heutzutage einen abwertenden Klang – zu recht: Utopien postulieren perfekte Gesellschaften, die eine Patentlösung für alle Probleme der Menschheit gefunden haben. Eine nicht nur naive sondern auch gefährliche Vorstellung: Nämlich dann wenn versucht wird, eine utopische Idee, die auf dem Papier funktioniert, gewaltsam in die Tat umzusetzen (siehe Sowjetunion).
Als Gegenbegriff zur positiv ausgerichteten Utopie gilt die pessimistische Dystopie, obwohl bei genauerer Betrachtung jede Utopie zwangläufig als Dystopie enden muss. Das eigentliche Gegenteil der Utopie ist daher die Heterotopie.
Gegen-Orte und Experimentier-Räume
Geschaffen wurde der Begriff 1967 vom poststrukturalistischen Philosophen Michel Foucault. Für Foucault sind Heterotopien eigentlich Orte oder Parallelgesellschaften, die nach einem eigenen, vom Rest der Gesellschaft abgekoppelten System mit eigenen Regeln funktionieren – gewissermaßen Utopien, die auf einen kleinen Raum begrenzt sind (z.B. Schiffe, Psychiatrien, das Internet, Tempel, Computerspiele oder Friedhöfe).
Ich verstehe den Begriff in einem mehr übergeordneten Sinne als eine Gesellschaft, in der mehrere solcher Systeme als Experimentierräume nebeneinander existieren, ohne vom gesellschaftlichen Mainstream isoliert zu sein. Heterotopisch wäre es zum Beispiel, in einem Landkreis oder einer Stadt das Bedingungslose Grundeinkommen einzuführen, direkte Demokratie umzusetzen, Marihuana zu legalisieren oder anarchistische Verwaltung zu betreiben.
Everything Goes
Wichtig dabei ist, diese Experimente nicht als festen Ideal-Zustand anzustreben, sondern sie als modifizierbare Prozesse zu betrachten, die zeigen müssen, ob sie etwas Produktives bewirken oder nicht. Wir brauchen eine Vielfalt unterschiedlichster Systeme, die nebeneinander bestehen können, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Damit funktionieren Heterotopien ähnlich wie Nietzsches Perspektivismus (die gleichzeitige Zulässigkeit aller Ansichten).
Dies scheint mir eine notwendige und realistische Konsequenz aus dem historischen Scheitern vieler utopischer oder einseitiger Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme zu sein. Wir sollten nicht versuchen, eine ideale Gesellschaft zu erreichen, sondern mehrere unperfekte. Wichtig ist nicht, ob Gesellschaftsentwurf A besser oder schlechter ist als Gesellschaftsentwurf B, sondern das Spannungsfeld, das zwischen A und B entsteht.
Ich hoffe, der Begriff der Heterotopie kann uns gedanklich und praktisch von solch dualistischen gut/böse-Denkmodellen kurieren und uns eine Vorstellung davon geben, wie Gesellschaften auch beschaffen sein könnten – auch wenn dies utopisch klingen mag :)